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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Leib rannten, um den Vorrang zu gewinnen.
Es bewarben sich um sie und versammelten sich
kühne und verzagte, listige und treuherzige, reiche
und arme Freier, solche mit einem guten und
anständigen Geschäft, und solche, welche als Ka¬
valiere zierlich von ihren Renten lebten; dieser
mit diesen, jener mit jenen Vorzügen, beredt
oder schweigsam, der Eine munter und liebens¬
würdig, und ein Anderer schien es mehr in sich
zu haben, wenn er auch etwas einfältig aussah;
kurz, das Fräulein hatte eine so vollkommene
Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer
sich nur wünschen kann. Allein sie besaß außer
ihrer Schönheit ein schönes Vermögen von vie¬
len tausend Goldgülden und diese waren die
Ursache, daß sie nie dazu kam, eine Wahl tref¬
fen und einen Mann nehmen zu können, denn
sie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umsicht
und Klugheit und legte einen großen Werth auf
dasselbe, und da nun der Mensch immer von
seinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt,
so geschah es, daß sie, sobald sich ihr ein ach¬
tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs
gefiel, alsobald sich einbildete, derselbe begehre

Leib rannten, um den Vorrang zu gewinnen.
Es bewarben ſich um ſie und verſammelten ſich
kühne und verzagte, liſtige und treuherzige, reiche
und arme Freier, ſolche mit einem guten und
anſtändigen Geſchäft, und ſolche, welche als Ka¬
valiere zierlich von ihren Renten lebten; dieſer
mit dieſen, jener mit jenen Vorzügen, beredt
oder ſchweigſam, der Eine munter und liebens¬
würdig, und ein Anderer ſchien es mehr in ſich
zu haben, wenn er auch etwas einfältig ausſah;
kurz, das Fräulein hatte eine ſo vollkommene
Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer
ſich nur wünſchen kann. Allein ſie beſaß außer
ihrer Schönheit ein ſchönes Vermögen von vie¬
len tauſend Goldgülden und dieſe waren die
Urſache, daß ſie nie dazu kam, eine Wahl tref¬
fen und einen Mann nehmen zu können, denn
ſie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umſicht
und Klugheit und legte einen großen Werth auf
daſſelbe, und da nun der Menſch immer von
ſeinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt,
ſo geſchah es, daß ſie, ſobald ſich ihr ein ach¬
tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs
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[479/0491] Leib rannten, um den Vorrang zu gewinnen. Es bewarben ſich um ſie und verſammelten ſich kühne und verzagte, liſtige und treuherzige, reiche und arme Freier, ſolche mit einem guten und anſtändigen Geſchäft, und ſolche, welche als Ka¬ valiere zierlich von ihren Renten lebten; dieſer mit dieſen, jener mit jenen Vorzügen, beredt oder ſchweigſam, der Eine munter und liebens¬ würdig, und ein Anderer ſchien es mehr in ſich zu haben, wenn er auch etwas einfältig ausſah; kurz, das Fräulein hatte eine ſo vollkommene Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer ſich nur wünſchen kann. Allein ſie beſaß außer ihrer Schönheit ein ſchönes Vermögen von vie¬ len tauſend Goldgülden und dieſe waren die Urſache, daß ſie nie dazu kam, eine Wahl tref¬ fen und einen Mann nehmen zu können, denn ſie verwaltete ihr Gut mit trefflicher Umſicht und Klugheit und legte einen großen Werth auf daſſelbe, und da nun der Menſch immer von ſeinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt, ſo geſchah es, daß ſie, ſobald ſich ihr ein ach¬ tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs gefiel, alſobald ſich einbildete, derſelbe begehre

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/491>, abgerufen am 22.11.2024.