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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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selben nachdenklich zerlegte, fand er dessen kleinen
Magen ganz kugelrund angefüllt mit frischer un¬
versehrter Speise. Grüne Kräutchen, artig zu¬
sammengerollt, schwarze und weiße Samenkörner
und eine glänzend rothe Beere waren da so
niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob
ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen
zur Reise gepackt hätte. Als Spiegel den Vo¬
gel langsam verzehrt und das so vergnüglich
gefüllte Mäglein an seine Klaue hing und phi¬
losophisch betrachtete, rührte ihn das Schicksal
des armen Vogels, welcher nach so friedlich ver¬
brachtem Geschäft so schnell sein Leben lassen
mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sa¬
chen verdauen konnte. "Was hat er nun davon
gehabt, der arme Kerl, sagte Spiegel, daß er
sich so fleißig und eifrig genährt hat, daß dies
kleine Säckchen aussieht, wie ein wohl vollbrach¬
tes Tagewerk? Diese rothe Beere ist es, die
ihn aus dem freien Walde in die Schlinge des
Vogelstellers gelockt hat. Aber er dachte doch,
seine Sache noch besser zu machen und sein Le¬
ben an solchen Beeren zu fristen, während ich,
der ich so eben den unglücklichen Vogel gegessen,

ſelben nachdenklich zerlegte, fand er deſſen kleinen
Magen ganz kugelrund angefüllt mit friſcher un¬
verſehrter Speiſe. Grüne Kräutchen, artig zu¬
ſammengerollt, ſchwarze und weiße Samenkörner
und eine glänzend rothe Beere waren da ſo
niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob
ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen
zur Reiſe gepackt hätte. Als Spiegel den Vo¬
gel langſam verzehrt und das ſo vergnüglich
gefüllte Mäglein an ſeine Klaue hing und phi¬
loſophiſch betrachtete, rührte ihn das Schickſal
des armen Vogels, welcher nach ſo friedlich ver¬
brachtem Geſchäft ſo ſchnell ſein Leben laſſen
mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sa¬
chen verdauen konnte. »Was hat er nun davon
gehabt, der arme Kerl, ſagte Spiegel, daß er
ſich ſo fleißig und eifrig genährt hat, daß dies
kleine Säckchen ausſieht, wie ein wohl vollbrach¬
tes Tagewerk? Dieſe rothe Beere iſt es, die
ihn aus dem freien Walde in die Schlinge des
Vogelſtellers gelockt hat. Aber er dachte doch,
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[462/0474] ſelben nachdenklich zerlegte, fand er deſſen kleinen Magen ganz kugelrund angefüllt mit friſcher un¬ verſehrter Speiſe. Grüne Kräutchen, artig zu¬ ſammengerollt, ſchwarze und weiße Samenkörner und eine glänzend rothe Beere waren da ſo niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob ein Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen zur Reiſe gepackt hätte. Als Spiegel den Vo¬ gel langſam verzehrt und das ſo vergnüglich gefüllte Mäglein an ſeine Klaue hing und phi¬ loſophiſch betrachtete, rührte ihn das Schickſal des armen Vogels, welcher nach ſo friedlich ver¬ brachtem Geſchäft ſo ſchnell ſein Leben laſſen mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sa¬ chen verdauen konnte. »Was hat er nun davon gehabt, der arme Kerl, ſagte Spiegel, daß er ſich ſo fleißig und eifrig genährt hat, daß dies kleine Säckchen ausſieht, wie ein wohl vollbrach¬ tes Tagewerk? Dieſe rothe Beere iſt es, die ihn aus dem freien Walde in die Schlinge des Vogelſtellers gelockt hat. Aber er dachte doch, ſeine Sache noch beſſer zu machen und ſein Le¬ ben an ſolchen Beeren zu friſten, während ich, der ich ſo eben den unglücklichen Vogel gegeſſen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/474>, abgerufen am 17.05.2024.