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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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die Noth zwang Spiegelchen, sich zu täuschen
und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweise
einmal es freundlich streicheln und ihm einen
Bissen darreichen werde. Und selbst wenn er
statt dessen nun doch geschlagen oder in den
Schwanz gekneift wurde, so kratzte er nicht,
sondern duckte sich lautlos zur Seite und sah
dann noch verlangend nach der Hand, die es
geschlagen und gekneift, und welche nach Wurst
oder Häring roch.

Als der edle und kluge Spiegel so herunter¬
gekommen war, saß er eines Tages ganz mager
und traurig auf seinem Steine und blinzelte in
der Sonne. Da kam der Stadthexenmeister Pineiß
des Weges, sah das Kätzchen und stand vor
ihm still. Etwas Gutes hoffend, obgleich es
den Unheimlichen wohl kannte, saß Spiegelchen
demüthig auf dem Stein und erwartete, was
der Herr Pineiß etwa thun oder sagen würde.
Als dieser aber begann und sagte: "Na, Katze!
Soll ich Dir Deinen Schmeer abkaufen?" da
verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der
Stadthexenmeister wolle es seiner Magerkeit
wegen verhöhnen. Doch erwiederte er bescheiden

die Noth zwang Spiegelchen, ſich zu täuſchen
und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweiſe
einmal es freundlich ſtreicheln und ihm einen
Biſſen darreichen werde. Und ſelbſt wenn er
ſtatt deſſen nun doch geſchlagen oder in den
Schwanz gekneift wurde, ſo kratzte er nicht,
ſondern duckte ſich lautlos zur Seite und ſah
dann noch verlangend nach der Hand, die es
geſchlagen und gekneift, und welche nach Wurſt
oder Häring roch.

Als der edle und kluge Spiegel ſo herunter¬
gekommen war, ſaß er eines Tages ganz mager
und traurig auf ſeinem Steine und blinzelte in
der Sonne. Da kam der Stadthexenmeiſter Pineiß
des Weges, ſah das Kätzchen und ſtand vor
ihm ſtill. Etwas Gutes hoffend, obgleich es
den Unheimlichen wohl kannte, ſaß Spiegelchen
demüthig auf dem Stein und erwartete, was
der Herr Pineiß etwa thun oder ſagen würde.
Als dieſer aber begann und ſagte: »Na, Katze!
Soll ich Dir Deinen Schmeer abkaufen?« da
verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der
Stadthexenmeiſter wolle es ſeiner Magerkeit
wegen verhöhnen. Doch erwiederte er beſcheiden

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[454/0466] die Noth zwang Spiegelchen, ſich zu täuſchen und zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweiſe einmal es freundlich ſtreicheln und ihm einen Biſſen darreichen werde. Und ſelbſt wenn er ſtatt deſſen nun doch geſchlagen oder in den Schwanz gekneift wurde, ſo kratzte er nicht, ſondern duckte ſich lautlos zur Seite und ſah dann noch verlangend nach der Hand, die es geſchlagen und gekneift, und welche nach Wurſt oder Häring roch. Als der edle und kluge Spiegel ſo herunter¬ gekommen war, ſaß er eines Tages ganz mager und traurig auf ſeinem Steine und blinzelte in der Sonne. Da kam der Stadthexenmeiſter Pineiß des Weges, ſah das Kätzchen und ſtand vor ihm ſtill. Etwas Gutes hoffend, obgleich es den Unheimlichen wohl kannte, ſaß Spiegelchen demüthig auf dem Stein und erwartete, was der Herr Pineiß etwa thun oder ſagen würde. Als dieſer aber begann und ſagte: »Na, Katze! Soll ich Dir Deinen Schmeer abkaufen?« da verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der Stadthexenmeiſter wolle es ſeiner Magerkeit wegen verhöhnen. Doch erwiederte er beſcheiden

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/466>, abgerufen am 22.11.2024.