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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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unterbrachen sie ihr Lamentiren und rannten ihm
nach, und die verzweifelte Szene war alsobald
in die Wohnung der erschrockenen Jungfrau ver¬
legt.

Diese war sehr betroffen und bewegt durch
das unerwartete Abenteuer; doch faßte sie sich
zuerst, und die Lage der Dinge überschauend,
beschloß sie, ihr eigenes Schicksal an des Mei¬
sters wunderlichen Einfall zu knüpfen und be¬
trachtete diesen als eine höhere Eingebung; sie
holte gerührt ein Schätzkästlein hervor und stach
mit einer Nadel zwischen die Blätter, und der
Spruch, welchen sie aufschlug, handelte vom un¬
entwegten Verfolgen eines guten Zieles. Dar¬
auf ließ sie die aufgeregten Gesellen aufschlagen,
und alles, was diese aufschlugen, handelte vom
eifrigen Wandel auf dem schmalen Wege, vom
Vorwärtsgehen ohne Rückschauen, von einer Lauf¬
bahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art,
so daß der morgende Wettlauf deutlich vom Him¬
mel vorgeschrieben schien. Da sie aber befürchtete,
daß Dietrich als der Jüngste leicht am besten
springen und die Palme erringen könnte, beschloß
sie, selbst mit den drei Liebhabern auszuziehen

unterbrachen ſie ihr Lamentiren und rannten ihm
nach, und die verzweifelte Szene war alſobald
in die Wohnung der erſchrockenen Jungfrau ver¬
legt.

Dieſe war ſehr betroffen und bewegt durch
das unerwartete Abenteuer; doch faßte ſie ſich
zuerſt, und die Lage der Dinge überſchauend,
beſchloß ſie, ihr eigenes Schickſal an des Mei¬
ſters wunderlichen Einfall zu knüpfen und be¬
trachtete dieſen als eine höhere Eingebung; ſie
holte gerührt ein Schätzkäſtlein hervor und ſtach
mit einer Nadel zwiſchen die Blätter, und der
Spruch, welchen ſie aufſchlug, handelte vom un¬
entwegten Verfolgen eines guten Zieles. Dar¬
auf ließ ſie die aufgeregten Geſellen aufſchlagen,
und alles, was dieſe aufſchlugen, handelte vom
eifrigen Wandel auf dem ſchmalen Wege, vom
Vorwärtsgehen ohne Rückſchauen, von einer Lauf¬
bahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art,
ſo daß der morgende Wettlauf deutlich vom Him¬
mel vorgeſchrieben ſchien. Da ſie aber befürchtete,
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[404/0416] unterbrachen ſie ihr Lamentiren und rannten ihm nach, und die verzweifelte Szene war alſobald in die Wohnung der erſchrockenen Jungfrau ver¬ legt. Dieſe war ſehr betroffen und bewegt durch das unerwartete Abenteuer; doch faßte ſie ſich zuerſt, und die Lage der Dinge überſchauend, beſchloß ſie, ihr eigenes Schickſal an des Mei¬ ſters wunderlichen Einfall zu knüpfen und be¬ trachtete dieſen als eine höhere Eingebung; ſie holte gerührt ein Schätzkäſtlein hervor und ſtach mit einer Nadel zwiſchen die Blätter, und der Spruch, welchen ſie aufſchlug, handelte vom un¬ entwegten Verfolgen eines guten Zieles. Dar¬ auf ließ ſie die aufgeregten Geſellen aufſchlagen, und alles, was dieſe aufſchlugen, handelte vom eifrigen Wandel auf dem ſchmalen Wege, vom Vorwärtsgehen ohne Rückſchauen, von einer Lauf¬ bahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art, ſo daß der morgende Wettlauf deutlich vom Him¬ mel vorgeſchrieben ſchien. Da ſie aber befürchtete, daß Dietrich als der Jüngſte leicht am beſten ſpringen und die Palme erringen könnte, beſchloß ſie, ſelbſt mit den drei Liebhabern auszuziehen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/416>, abgerufen am 26.11.2024.