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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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band ihn an sich während eines Jahres, aber
nicht ohne ihn ganz in den Schranken klarer
Hoffnungslosigkeit zu halten, die sie mit sanfter,
aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da
er neun Jahre jünger war als sie, arm wie
eine Maus und ungeschickt zum Erwerb, der für
einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht er¬
heblich war, weil die Leute da nicht lasen und
wenig Bücher binden ließen, so verbarg sie sich
keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereini¬
gung und suchte nur seinen Geist auf alle Weise
an ihrer eigenen Entsagungsfähigkeit heranzubil¬
den und in einer Wolke von buntscheckigen Phra¬
sen einzubalsamiren. Er hörte ihr andächtig zu
und wagte zuweilen selbst einen schönen Ausspruch,
den sie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit
einem noch schöneren; dies war das geistigste
und edelste ihrer Jahre, durch keinen gröberen
Hauch getrübt, und der junge Mensch band ihr
während derselben alle ihre Bücher neu ein, und
bauete überdies während vieler Nächte und vieler
Feiertage ein kunstreiches und kostbares Denkmal
seiner Verehrung. Es war ein großer chinesischer
Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern

band ihn an ſich während eines Jahres, aber
nicht ohne ihn ganz in den Schranken klarer
Hoffnungsloſigkeit zu halten, die ſie mit ſanfter,
aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da
er neun Jahre jünger war als ſie, arm wie
eine Maus und ungeſchickt zum Erwerb, der für
einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht er¬
heblich war, weil die Leute da nicht laſen und
wenig Bücher binden ließen, ſo verbarg ſie ſich
keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereini¬
gung und ſuchte nur ſeinen Geiſt auf alle Weiſe
an ihrer eigenen Entſagungsfähigkeit heranzubil¬
den und in einer Wolke von buntſcheckigen Phra¬
ſen einzubalſamiren. Er hörte ihr andächtig zu
und wagte zuweilen ſelbſt einen ſchönen Ausſpruch,
den ſie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit
einem noch ſchöneren; dies war das geiſtigſte
und edelſte ihrer Jahre, durch keinen gröberen
Hauch getrübt, und der junge Menſch band ihr
während derſelben alle ihre Bücher neu ein, und
bauete überdies während vieler Nächte und vieler
Feiertage ein kunſtreiches und koſtbares Denkmal
ſeiner Verehrung. Es war ein großer chineſiſcher
Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern

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[392/0404] band ihn an ſich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn ganz in den Schranken klarer Hoffnungsloſigkeit zu halten, die ſie mit ſanfter, aber unerbittlicher Hand vorzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger war als ſie, arm wie eine Maus und ungeſchickt zum Erwerb, der für einen Buchbinder in Seldwyla ohnehin nicht er¬ heblich war, weil die Leute da nicht laſen und wenig Bücher binden ließen, ſo verbarg ſie ſich keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereini¬ gung und ſuchte nur ſeinen Geiſt auf alle Weiſe an ihrer eigenen Entſagungsfähigkeit heranzubil¬ den und in einer Wolke von buntſcheckigen Phra¬ ſen einzubalſamiren. Er hörte ihr andächtig zu und wagte zuweilen ſelbſt einen ſchönen Ausſpruch, den ſie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit einem noch ſchöneren; dies war das geiſtigſte und edelſte ihrer Jahre, durch keinen gröberen Hauch getrübt, und der junge Menſch band ihr während derſelben alle ihre Bücher neu ein, und bauete überdies während vieler Nächte und vieler Feiertage ein kunſtreiches und koſtbares Denkmal ſeiner Verehrung. Es war ein großer chineſiſcher Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/404>, abgerufen am 13.05.2024.