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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Aber so wenig Jemand eine Münze von ihm zu
besehen kriegte, eben so wenig erhielt Jemand
von ihm je ein barsches Wort, eine unbillige
Zumuthung oder ein schiefes Gesicht; er wich
vielmehr allen Händeln auf das sorgfältigste aus
und nahm keinen Scherz übel, den man sich mit
ihm erlaubte; und so neugierig er war, den
Verlauf von allerlei Klatschereien und Streitig¬
keiten zu betrachten und zu beurtheilen, da solche
jederzeit einen kostenfreien Zeitvertreib gewährten,
während andere Gesellen ihren rohen Gelagen
nachgingen, so hütete er sich wohl, sich in etwas
zu mischen und über einer Unvorsichtigkeit betref¬
fen zu lassen. Kurz er war die merkwürdigste
Mischung von wahrhaft heroischer Weisheit und
Ausdauer und von sanfter schnöder Herz- und
Gefühllosigkeit.

Einst war er schon seit vielen Wochen der
einzige Geselle in dem Geschäft und es war
ihm so wohl in dieser Ungestörtheit wie einem
Fisch im Wasser. Besonders des Nachts freute
er sich des breiten Raumes im Bette und benutzte
sehr ökonomisch diese schöne Zeit, sich für die
kommenden Tage zu entschädigen und seine Per¬

Aber ſo wenig Jemand eine Münze von ihm zu
beſehen kriegte, eben ſo wenig erhielt Jemand
von ihm je ein barſches Wort, eine unbillige
Zumuthung oder ein ſchiefes Geſicht; er wich
vielmehr allen Händeln auf das ſorgfältigſte aus
und nahm keinen Scherz übel, den man ſich mit
ihm erlaubte; und ſo neugierig er war, den
Verlauf von allerlei Klatſchereien und Streitig¬
keiten zu betrachten und zu beurtheilen, da ſolche
jederzeit einen koſtenfreien Zeitvertreib gewährten,
während andere Geſellen ihren rohen Gelagen
nachgingen, ſo hütete er ſich wohl, ſich in etwas
zu miſchen und über einer Unvorſichtigkeit betref¬
fen zu laſſen. Kurz er war die merkwürdigſte
Miſchung von wahrhaft heroiſcher Weisheit und
Ausdauer und von ſanfter ſchnöder Herz- und
Gefühlloſigkeit.

Einſt war er ſchon ſeit vielen Wochen der
einzige Geſelle in dem Geſchäft und es war
ihm ſo wohl in dieſer Ungeſtörtheit wie einem
Fiſch im Waſſer. Beſonders des Nachts freute
er ſich des breiten Raumes im Bette und benutzte
ſehr ökonomiſch dieſe ſchöne Zeit, ſich für die
kommenden Tage zu entſchädigen und ſeine Per¬

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[374/0386] Aber ſo wenig Jemand eine Münze von ihm zu beſehen kriegte, eben ſo wenig erhielt Jemand von ihm je ein barſches Wort, eine unbillige Zumuthung oder ein ſchiefes Geſicht; er wich vielmehr allen Händeln auf das ſorgfältigſte aus und nahm keinen Scherz übel, den man ſich mit ihm erlaubte; und ſo neugierig er war, den Verlauf von allerlei Klatſchereien und Streitig¬ keiten zu betrachten und zu beurtheilen, da ſolche jederzeit einen koſtenfreien Zeitvertreib gewährten, während andere Geſellen ihren rohen Gelagen nachgingen, ſo hütete er ſich wohl, ſich in etwas zu miſchen und über einer Unvorſichtigkeit betref¬ fen zu laſſen. Kurz er war die merkwürdigſte Miſchung von wahrhaft heroiſcher Weisheit und Ausdauer und von ſanfter ſchnöder Herz- und Gefühlloſigkeit. Einſt war er ſchon ſeit vielen Wochen der einzige Geſelle in dem Geſchäft und es war ihm ſo wohl in dieſer Ungeſtörtheit wie einem Fiſch im Waſſer. Beſonders des Nachts freute er ſich des breiten Raumes im Bette und benutzte ſehr ökonomiſch dieſe ſchöne Zeit, ſich für die kommenden Tage zu entſchädigen und ſeine Per¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/386>, abgerufen am 28.11.2024.