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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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das Unmenschliche an diesem so stillen und fried¬
fertigen Plane war nur, daß Jobst ihn überhaupt
gefaßt hatte; denn nichts in seinem Herzen zwang
ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben, weder eine
Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute,
weder für die politische Verfassung dieses Landes,
noch für seine Sitten. Dies alles war ihm so
gleichgültig, wie seine eigene Heimath, nach wel¬
cher er sich gar nicht zurücksehnte; an hundert
Orten in der Welt konnte er sich mit seinem
Fleiß und mit seiner Gerechtigkeit eben so wohl
festhalten, wie hier; aber er hatte keine freie
Wahl und ergriff in seinem öden Sinne die erste
zufällige Hoffnungsfaser, die sich ihm bot, um
sich daran zu hängen und sich daran groß zu
saugen. Wo es mir wohl geht, da ist mein
Vaterland! heißt es sonst und dieses Sprichwort
soll unangetastet bleiben für diejenigen, welche
auch wirklich eine bessere und nothwendige Ur¬
sache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande
aufzuweisen haben, welche in freiem Entschlusse
in die Welt hinausgegangen, um sich rüstig einen
Vortheil zu erringen und als geborgene Leute
zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen

das Unmenſchliche an dieſem ſo ſtillen und fried¬
fertigen Plane war nur, daß Jobſt ihn überhaupt
gefaßt hatte; denn nichts in ſeinem Herzen zwang
ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben, weder eine
Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute,
weder für die politiſche Verfaſſung dieſes Landes,
noch für ſeine Sitten. Dies alles war ihm ſo
gleichgültig, wie ſeine eigene Heimath, nach wel¬
cher er ſich gar nicht zurückſehnte; an hundert
Orten in der Welt konnte er ſich mit ſeinem
Fleiß und mit ſeiner Gerechtigkeit eben ſo wohl
feſthalten, wie hier; aber er hatte keine freie
Wahl und ergriff in ſeinem öden Sinne die erſte
zufällige Hoffnungsfaſer, die ſich ihm bot, um
ſich daran zu hängen und ſich daran groß zu
ſaugen. Wo es mir wohl geht, da iſt mein
Vaterland! heißt es ſonſt und dieſes Sprichwort
ſoll unangetaſtet bleiben für diejenigen, welche
auch wirklich eine beſſere und nothwendige Ur¬
ſache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande
aufzuweiſen haben, welche in freiem Entſchluſſe
in die Welt hinausgegangen, um ſich rüſtig einen
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zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen

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[370/0382] das Unmenſchliche an dieſem ſo ſtillen und fried¬ fertigen Plane war nur, daß Jobſt ihn überhaupt gefaßt hatte; denn nichts in ſeinem Herzen zwang ihn, gerade in Seldwyla zu bleiben, weder eine Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute, weder für die politiſche Verfaſſung dieſes Landes, noch für ſeine Sitten. Dies alles war ihm ſo gleichgültig, wie ſeine eigene Heimath, nach wel¬ cher er ſich gar nicht zurückſehnte; an hundert Orten in der Welt konnte er ſich mit ſeinem Fleiß und mit ſeiner Gerechtigkeit eben ſo wohl feſthalten, wie hier; aber er hatte keine freie Wahl und ergriff in ſeinem öden Sinne die erſte zufällige Hoffnungsfaſer, die ſich ihm bot, um ſich daran zu hängen und ſich daran groß zu ſaugen. Wo es mir wohl geht, da iſt mein Vaterland! heißt es ſonſt und dieſes Sprichwort ſoll unangetaſtet bleiben für diejenigen, welche auch wirklich eine beſſere und nothwendige Ur¬ ſache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande aufzuweiſen haben, welche in freiem Entſchluſſe in die Welt hinausgegangen, um ſich rüſtig einen Vortheil zu erringen und als geborgene Leute zurückzukehren, oder welche einem unwohnlichen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/382>, abgerufen am 29.11.2024.