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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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aber Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide
hübsche Arme entgegen, welche vom Ellbogen an
bloß waren, und rief: "Wie Recht hast Du,
daß Du schon jetzt und hieher kommst! Aber
hast Du mir Schuhe gebracht? Gewiß? Nun
steh' ich nicht auf, bis ich sie an habe!" Er
zog die Ersehnten aus der Tasche und gab sie
dem begierigen schönen Mädchen; es schleuderte
die alten von sich, schlüpfte in die neuen und
sie paßten sehr gut. Erst jetzt erhob es sich
vom Stuhl, wiegte sich in den neuen Schuhen
und ging eifrig einige Mal auf und nieder.
Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück
und beschaute wohlgefällig die rothen wollenen
Schleifen, welche die Schuhe zierten, während
Sali unaufhörlich die feine reizende Gestalt be¬
trachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor
ihm sich regte und freute. "Du beschaust meinen
Strauß? sagte Vrenchen, hab' ich nicht einen
schönen zusammengebracht? Du mußt wissen,
dies sind die letzten Blumen, die ich noch auf¬
gefunden in dieser Wüstenei. Hier war noch
ein Röschen, dort eine Aster, und wie sie nun
gebunden sind, würde man es ihnen nicht anse¬

aber Sali erſcheinen ſah, ſtreckte es ihm beide
hübſche Arme entgegen, welche vom Ellbogen an
bloß waren, und rief: »Wie Recht haſt Du,
daß Du ſchon jetzt und hieher kommſt! Aber
haſt Du mir Schuhe gebracht? Gewiß? Nun
ſteh' ich nicht auf, bis ich ſie an habe!« Er
zog die Erſehnten aus der Taſche und gab ſie
dem begierigen ſchönen Mädchen; es ſchleuderte
die alten von ſich, ſchlüpfte in die neuen und
ſie paßten ſehr gut. Erſt jetzt erhob es ſich
vom Stuhl, wiegte ſich in den neuen Schuhen
und ging eifrig einige Mal auf und nieder.
Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück
und beſchaute wohlgefällig die rothen wollenen
Schleifen, welche die Schuhe zierten, während
Sali unaufhörlich die feine reizende Geſtalt be¬
trachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor
ihm ſich regte und freute. »Du beſchauſt meinen
Strauß? ſagte Vrenchen, hab' ich nicht einen
ſchönen zuſammengebracht? Du mußt wiſſen,
dies ſind die letzten Blumen, die ich noch auf¬
gefunden in dieſer Wüſtenei. Hier war noch
ein Röschen, dort eine Aſter, und wie ſie nun
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[306/0318] aber Sali erſcheinen ſah, ſtreckte es ihm beide hübſche Arme entgegen, welche vom Ellbogen an bloß waren, und rief: »Wie Recht haſt Du, daß Du ſchon jetzt und hieher kommſt! Aber haſt Du mir Schuhe gebracht? Gewiß? Nun ſteh' ich nicht auf, bis ich ſie an habe!« Er zog die Erſehnten aus der Taſche und gab ſie dem begierigen ſchönen Mädchen; es ſchleuderte die alten von ſich, ſchlüpfte in die neuen und ſie paßten ſehr gut. Erſt jetzt erhob es ſich vom Stuhl, wiegte ſich in den neuen Schuhen und ging eifrig einige Mal auf und nieder. Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und beſchaute wohlgefällig die rothen wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten, während Sali unaufhörlich die feine reizende Geſtalt be¬ trachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor ihm ſich regte und freute. »Du beſchauſt meinen Strauß? ſagte Vrenchen, hab' ich nicht einen ſchönen zuſammengebracht? Du mußt wiſſen, dies ſind die letzten Blumen, die ich noch auf¬ gefunden in dieſer Wüſtenei. Hier war noch ein Röschen, dort eine Aſter, und wie ſie nun gebunden ſind, würde man es ihnen nicht anſe¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/318>, abgerufen am 12.05.2024.