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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts
aus ihm herauszufragen, als daß es selbst den
Vater so gefunden habe, und da er am andern
Tage sich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬
lich ohne Bewußtsein, und überdies kein Kläger
da war, so nahm man an, er sei betrunken
gewesen und auf die Steine gefallen und ließ
die Sache auf sich beruhen. Vrenchen pflegte
ihn und ging nicht von seiner Seite, außer um
die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa
für sich selbst eine schlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es
Tag und Nacht auf sein mußte und Niemand
ihm half. Es dauerte beinahe sechs Wochen,
bis der Kranke allmälig zu seinem Bewußtsein
kam, obgleich er vorher schon wieder aß und in
seinem Bette ziemlich munter war. Aber es war
nicht das alte Bewußtsein, das er jetzt erlangte,
sondern es zeigte sich immer deutlicher, je mehr
er sprach, daß er blödsinnig geworden, und zwar
auf die wunderlichste Weise. Er erinnerte sich
nur dunkel an das Geschehene und wie an etwas
sehr lustiges, was ihn nicht weiter berühre,
lachte immer wie ein Narr und war sehr guter

Keller, die Leute von Seldwyla. 19

Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts
aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den
Vater ſo gefunden habe, und da er am andern
Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬
lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger
da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken
geweſen und auf die Steine gefallen und ließ
die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte
ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um
die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa
für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es
Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand
ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen,
bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein
kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in
ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war
nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte,
ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr
er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar
auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich
nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas
ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre,
lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter

Keller, die Leute von Seldwyla. 19
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[289/0301] Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den Vater ſo gefunden habe, und da er am andern Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬ lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken geweſen und auf die Steine gefallen und ließ die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen; denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen, bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte, ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter Keller, die Leute von Seldwyla. 19

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/301>, abgerufen am 25.11.2024.