das Urtheil des Sohnes nur loben und ebenso dessen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit welcher er dem erwählten Mädchen anhing, so daß sie sich aller weitern Zucht und aller Listen endlich enthoben sah.
Diese Klippe war unterdessen kaum glücklich umschifft, als sich eine andere zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte und der Frau Re¬ gula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo Fritz, der Sohn, anfing zu politisiren und damit mehr als durch alles Andere in die Gemeinschaft seiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein liberaler Gesell, wegen seiner Jugend, seines Verstandes, seines ruhigen Gewissens in Hinsicht seiner persönlichen Pflichterfüllung und aus aner¬ erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhn¬ licher oberflächlicher Anschauungsweise etwa hätte meinen können, Frau Amrain wäre aristokrati¬ scher Gesinnung gewesen, weil sie die meisten Leute verachten mußte, unter denen sie lebte, so war dem doch nicht also; denn höher und feiner als die Verachtung ist die Achtung vor der Welt im Ganzen. Wer freisinnig ist, traut sich und
das Urtheil des Sohnes nur loben und ebenſo deſſen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit welcher er dem erwählten Mädchen anhing, ſo daß ſie ſich aller weitern Zucht und aller Liſten endlich enthoben ſah.
Dieſe Klippe war unterdeſſen kaum glücklich umſchifft, als ſich eine andere zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte und der Frau Re¬ gula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo Fritz, der Sohn, anfing zu politiſiren und damit mehr als durch alles Andere in die Gemeinſchaft ſeiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein liberaler Geſell, wegen ſeiner Jugend, ſeines Verſtandes, ſeines ruhigen Gewiſſens in Hinſicht ſeiner perſönlichen Pflichterfüllung und aus aner¬ erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhn¬ licher oberflächlicher Anſchauungsweiſe etwa hätte meinen können, Frau Amrain wäre ariſtokrati¬ ſcher Geſinnung geweſen, weil ſie die meiſten Leute verachten mußte, unter denen ſie lebte, ſo war dem doch nicht alſo; denn höher und feiner als die Verachtung iſt die Achtung vor der Welt im Ganzen. Wer freiſinnig iſt, traut ſich und
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das Urtheil des Sohnes nur loben und ebenſo
deſſen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit
welcher er dem erwählten Mädchen anhing, ſo
daß ſie ſich aller weitern Zucht und aller Liſten
endlich enthoben ſah.
Dieſe Klippe war unterdeſſen kaum glücklich
umſchifft, als ſich eine andere zeigte, welche noch
gefährlicher zu werden drohte und der Frau Re¬
gula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit
zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo
Fritz, der Sohn, anfing zu politiſiren und damit
mehr als durch alles Andere in die Gemeinſchaft
ſeiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein
liberaler Geſell, wegen ſeiner Jugend, ſeines
Verſtandes, ſeines ruhigen Gewiſſens in Hinſicht
ſeiner perſönlichen Pflichterfüllung und aus aner¬
erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhn¬
licher oberflächlicher Anſchauungsweiſe etwa hätte
meinen können, Frau Amrain wäre ariſtokrati¬
ſcher Geſinnung geweſen, weil ſie die meiſten
Leute verachten mußte, unter denen ſie lebte, ſo
war dem doch nicht alſo; denn höher und feiner
als die Verachtung iſt die Achtung vor der Welt
im Ganzen. Wer freiſinnig iſt, traut ſich und
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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/167>, abgerufen am 28.11.2024.
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