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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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zu; dann stand sie tief aufathmend und nach¬
denklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind
auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um
ihren Hals schlang und mit dem rechten Händ¬
chen die lange Stange mit dem glänzenden Knopf,
die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Bo¬
den stemmte. Dann sah sie aufmerksam in das
nahe Gesicht des Kindes und bedeckte es mit
Küssen, und endlich ergriff sie abermals die
Lampe und ging in die Kammer, um nach den
beiden ältesten Knaben zu sehen. Dieselben
schliefen wie Murmelthiere und hatten von allem
nichts gehört. Also schienen sie Nachtmützen zu
sein, obschon sie ihr selbst glichen; der Jüngste
aber, der dem Vater glich, hatte sich als wachsam,
feinfühlend und muthvoll erwiesen und schien
das werden zu wollen, was der Alte eigentlich
sein sollte und was sie einst auch hinter ihm
gesucht. Indem sie über dieses geheimnißvolle
Spiel der Natur nachdachte und nicht wußte,
ob sie froh sein sollte, daß das Abbild des einst
geliebten Mannes besser schien, als ihre eigenen
so träge daliegenden Bilder, legte sie das Kind
in sein Bettchen zurück, deckte es zu und beschloß,

zu; dann ſtand ſie tief aufathmend und nach¬
denklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind
auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um
ihren Hals ſchlang und mit dem rechten Händ¬
chen die lange Stange mit dem glänzenden Knopf,
die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Bo¬
den ſtemmte. Dann ſah ſie aufmerkſam in das
nahe Geſicht des Kindes und bedeckte es mit
Küſſen, und endlich ergriff ſie abermals die
Lampe und ging in die Kammer, um nach den
beiden älteſten Knaben zu ſehen. Dieſelben
ſchliefen wie Murmelthiere und hatten von allem
nichts gehört. Alſo ſchienen ſie Nachtmützen zu
ſein, obſchon ſie ihr ſelbſt glichen; der Jüngſte
aber, der dem Vater glich, hatte ſich als wachſam,
feinfühlend und muthvoll erwieſen und ſchien
das werden zu wollen, was der Alte eigentlich
ſein ſollte und was ſie einſt auch hinter ihm
geſucht. Indem ſie über dieſes geheimnißvolle
Spiel der Natur nachdachte und nicht wußte,
ob ſie froh ſein ſollte, daß das Abbild des einſt
geliebten Mannes beſſer ſchien, als ihre eigenen
ſo träge daliegenden Bilder, legte ſie das Kind
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[126/0138] zu; dann ſtand ſie tief aufathmend und nach¬ denklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind auf dem Arm, welches das linke Ärmchen um ihren Hals ſchlang und mit dem rechten Händ¬ chen die lange Stange mit dem glänzenden Knopf, die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Bo¬ den ſtemmte. Dann ſah ſie aufmerkſam in das nahe Geſicht des Kindes und bedeckte es mit Küſſen, und endlich ergriff ſie abermals die Lampe und ging in die Kammer, um nach den beiden älteſten Knaben zu ſehen. Dieſelben ſchliefen wie Murmelthiere und hatten von allem nichts gehört. Alſo ſchienen ſie Nachtmützen zu ſein, obſchon ſie ihr ſelbſt glichen; der Jüngſte aber, der dem Vater glich, hatte ſich als wachſam, feinfühlend und muthvoll erwieſen und ſchien das werden zu wollen, was der Alte eigentlich ſein ſollte und was ſie einſt auch hinter ihm geſucht. Indem ſie über dieſes geheimnißvolle Spiel der Natur nachdachte und nicht wußte, ob ſie froh ſein ſollte, daß das Abbild des einſt geliebten Mannes beſſer ſchien, als ihre eigenen ſo träge daliegenden Bilder, legte ſie das Kind in ſein Bettchen zurück, deckte es zu und beſchloß,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/138>, abgerufen am 04.12.2024.