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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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und wußte auf das Schönste darüber und über
noch viel mehr zu sprechen. Wenn sie zufrieden
und nicht zu sehr beschäftigt war, so ertönten
unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle
Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurtheilen
und Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt
und Ungelehrt mußte von ihr lernen und sich
ihrem Urtheile unterziehen, wenn sie lächelnd
oder sinnig erst ein Weilchen aufgemerkt hatte,
worum es sich handle; sie sprach zuweilen so
viel und so salbungsvoll, wie eine gebildete
Blinde, die nichts von der Welt sieht und deren
einziger Genuß ist, sich selbst reden zu hören.
Von der Stadtschule her und aus dem Konfir¬
mationsunterrichte hatte sie die Übung ununter¬
brochen beibehalten, Aufsätze und geistliche Me¬
morirungen und allerhand spruchweise Schemata
zu schreiben, und so verfertigte sie zuweilen an
stillen Sonntagen die wunderbarsten Aufsätze, in¬
dem sie an irgend einen wohlklingenden Titel,
den sie gehört oder gelesen, die sonderbarsten und
unsinnigsten Sätze anreihte, ganze Bogen voll,
wie sie ihrem seltsamen Gehirn entsprangen, wie
z. B. Über das Nutzbringende eines Krankenbet¬

und wußte auf das Schönſte darüber und über
noch viel mehr zu ſprechen. Wenn ſie zufrieden
und nicht zu ſehr beſchäftigt war, ſo ertönten
unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle
Dinge wußte ſie heimzuweiſen und zu beurtheilen
und Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt
und Ungelehrt mußte von ihr lernen und ſich
ihrem Urtheile unterziehen, wenn ſie lächelnd
oder ſinnig erſt ein Weilchen aufgemerkt hatte,
worum es ſich handle; ſie ſprach zuweilen ſo
viel und ſo ſalbungsvoll, wie eine gebildete
Blinde, die nichts von der Welt ſieht und deren
einziger Genuß iſt, ſich ſelbſt reden zu hören.
Von der Stadtſchule her und aus dem Konfir¬
mationsunterrichte hatte ſie die Übung ununter¬
brochen beibehalten, Aufſätze und geiſtliche Me¬
morirungen und allerhand ſpruchweiſe Schemata
zu ſchreiben, und ſo verfertigte ſie zuweilen an
ſtillen Sonntagen die wunderbarſten Aufſätze, in¬
dem ſie an irgend einen wohlklingenden Titel,
den ſie gehört oder geleſen, die ſonderbarſten und
unſinnigſten Sätze anreihte, ganze Bogen voll,
wie ſie ihrem ſeltſamen Gehirn entſprangen, wie
z. B. Über das Nutzbringende eines Krankenbet¬

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[390/0402] und wußte auf das Schönſte darüber und über noch viel mehr zu ſprechen. Wenn ſie zufrieden und nicht zu ſehr beſchäftigt war, ſo ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle Dinge wußte ſie heimzuweiſen und zu beurtheilen und Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt und Ungelehrt mußte von ihr lernen und ſich ihrem Urtheile unterziehen, wenn ſie lächelnd oder ſinnig erſt ein Weilchen aufgemerkt hatte, worum es ſich handle; ſie ſprach zuweilen ſo viel und ſo ſalbungsvoll, wie eine gebildete Blinde, die nichts von der Welt ſieht und deren einziger Genuß iſt, ſich ſelbſt reden zu hören. Von der Stadtſchule her und aus dem Konfir¬ mationsunterrichte hatte ſie die Übung ununter¬ brochen beibehalten, Aufſätze und geiſtliche Me¬ morirungen und allerhand ſpruchweiſe Schemata zu ſchreiben, und ſo verfertigte ſie zuweilen an ſtillen Sonntagen die wunderbarſten Aufſätze, in¬ dem ſie an irgend einen wohlklingenden Titel, den ſie gehört oder geleſen, die ſonderbarſten und unſinnigſten Sätze anreihte, ganze Bogen voll, wie ſie ihrem ſeltſamen Gehirn entſprangen, wie z. B. Über das Nutzbringende eines Krankenbet¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/402>, abgerufen am 30.11.2024.