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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Da war er nicht mehr zu sehen und die musizi¬
renden Engel rauschten, flatterten und drängten sich
durch ein offenes Kirchenfenster davon, nachdem sie in
muthwilliger Kinderweise ihre zusammengerollten No¬
tenblätter den geduldigen Steinengeln um die Backen
geschlagen hatten, daß es klatschte.

Da ging Musa andächtigen Schrittes nach Hause,
jene himmlische Melodie im Ohr tragend, und ließ
sich ein grobes Gewand anfertigen, legte alle Zier¬
kleidung ab und zog jenes an. Zugleich baute sie sich
im Hintergrunde des Gartens ihrer Eltern, wo ein
dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine Zelle,
machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort
von nun an abgeschieden von ihren Hausgenossen als
eine Büßerin und Heilige. Alle Zeit brachte sie im
Gebete zu und öfter schlug sie sich mit einer Geißel;
aber ihre härteste Bußübung bestand darin, die Beine
still und steif zu halten; sobald nur ein Ton erklang,
das Zwitschern eines Vogels oder das Rauschen der
Blätter in der Luft, so zuckten ihre Füße und mein¬
ten, sie müßten tanzen.

Als dies unwillkürliche Zucken sich nicht verlieren
wollte, welches sie, zuweilen, ehe sie sich dessen versah,
zu einem kleinen Sprung verleitete, ließ sie sich die
feinen Füßchen mit einer leichten Kette zusammen¬
schmieden. Ihre Verwandten und Freunde wunderten

Da war er nicht mehr zu ſehen und die muſizi¬
renden Engel rauſchten, flatterten und drängten ſich
durch ein offenes Kirchenfenſter davon, nachdem ſie in
muthwilliger Kinderweiſe ihre zuſammengerollten No¬
tenblätter den geduldigen Steinengeln um die Backen
geſchlagen hatten, daß es klatſchte.

Da ging Muſa andächtigen Schrittes nach Hauſe,
jene himmliſche Melodie im Ohr tragend, und ließ
ſich ein grobes Gewand anfertigen, legte alle Zier¬
kleidung ab und zog jenes an. Zugleich baute ſie ſich
im Hintergrunde des Gartens ihrer Eltern, wo ein
dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine Zelle,
machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort
von nun an abgeſchieden von ihren Hausgenoſſen als
eine Büßerin und Heilige. Alle Zeit brachte ſie im
Gebete zu und öfter ſchlug ſie ſich mit einer Geißel;
aber ihre härteſte Bußübung beſtand darin, die Beine
ſtill und ſteif zu halten; ſobald nur ein Ton erklang,
das Zwitſchern eines Vogels oder das Rauſchen der
Blätter in der Luft, ſo zuckten ihre Füße und mein¬
ten, ſie müßten tanzen.

Als dies unwillkürliche Zucken ſich nicht verlieren
wollte, welches ſie, zuweilen, ehe ſie ſich deſſen verſah,
zu einem kleinen Sprung verleitete, ließ ſie ſich die
feinen Füßchen mit einer leichten Kette zuſammen¬
ſchmieden. Ihre Verwandten und Freunde wunderten

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[143/0157] Da war er nicht mehr zu ſehen und die muſizi¬ renden Engel rauſchten, flatterten und drängten ſich durch ein offenes Kirchenfenſter davon, nachdem ſie in muthwilliger Kinderweiſe ihre zuſammengerollten No¬ tenblätter den geduldigen Steinengeln um die Backen geſchlagen hatten, daß es klatſchte. Da ging Muſa andächtigen Schrittes nach Hauſe, jene himmliſche Melodie im Ohr tragend, und ließ ſich ein grobes Gewand anfertigen, legte alle Zier¬ kleidung ab und zog jenes an. Zugleich baute ſie ſich im Hintergrunde des Gartens ihrer Eltern, wo ein dichter Schatten von Bäumen lagerte, eine Zelle, machte ein Bettchen von Moos darin und lebte dort von nun an abgeſchieden von ihren Hausgenoſſen als eine Büßerin und Heilige. Alle Zeit brachte ſie im Gebete zu und öfter ſchlug ſie ſich mit einer Geißel; aber ihre härteſte Bußübung beſtand darin, die Beine ſtill und ſteif zu halten; ſobald nur ein Ton erklang, das Zwitſchern eines Vogels oder das Rauſchen der Blätter in der Luft, ſo zuckten ihre Füße und mein¬ ten, ſie müßten tanzen. Als dies unwillkürliche Zucken ſich nicht verlieren wollte, welches ſie, zuweilen, ehe ſie ſich deſſen verſah, zu einem kleinen Sprung verleitete, ließ ſie ſich die feinen Füßchen mit einer leichten Kette zuſammen¬ ſchmieden. Ihre Verwandten und Freunde wunderten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/157>, abgerufen am 28.03.2024.