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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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bemerkte, folgte er dem etwas schmäleren Zweige;
nach einer Stunde wiederholte sich der gleiche
Irrthum, indem die Straße sich abermals in eine
unmerklich kleinere abzweigte, und endlich war
Heinrich, auf einem schmalen holperigen Fahrweg
gehend, weit seitwärts von der Heerstraße und in
das Innere des alten Landes gerathen. Er ging
über dunkle Höhen, durch Gehölze, über Feld-
und Wiesenfluren, an Dörfern vorüber, deren
schwache Umrisse oder matte Lichter weit vom
Wege lagen; er begegnete einzelnen unkenntlichen
Menschen, welche ihn ebenso wenig erkennen moch¬
ten und behutsam grüßten oder auch schweigend
vorbeigingen. Aber er fragte Niemanden nach
dem Wege, da er einen näheren Ort in der Rich¬
tung nach der Schweiz nicht zu nennen wußte,
und nach der letzteren am wenigsten fragen
mochte in der Ueberzeugung, daß die Frage so tief
im fremden Lande, auf nächtlichen Wegen an
herumdämmernde Landleute gerichtet, vollkommen
zwecklos und thöricht erscheinen, ja sogar bedenk¬
lich auffallen würde. So ging er mitten in dem
civilisirtesten Welttheil wie in einer unbewohnten

bemerkte, folgte er dem etwas ſchmaͤleren Zweige;
nach einer Stunde wiederholte ſich der gleiche
Irrthum, indem die Straße ſich abermals in eine
unmerklich kleinere abzweigte, und endlich war
Heinrich, auf einem ſchmalen holperigen Fahrweg
gehend, weit ſeitwaͤrts von der Heerſtraße und in
das Innere des alten Landes gerathen. Er ging
uͤber dunkle Hoͤhen, durch Gehoͤlze, uͤber Feld-
und Wieſenfluren, an Doͤrfern voruͤber, deren
ſchwache Umriſſe oder matte Lichter weit vom
Wege lagen; er begegnete einzelnen unkenntlichen
Menſchen, welche ihn ebenſo wenig erkennen moch¬
ten und behutſam gruͤßten oder auch ſchweigend
vorbeigingen. Aber er fragte Niemanden nach
dem Wege, da er einen naͤheren Ort in der Rich¬
tung nach der Schweiz nicht zu nennen wußte,
und nach der letzteren am wenigſten fragen
mochte in der Ueberzeugung, daß die Frage ſo tief
im fremden Lande, auf naͤchtlichen Wegen an
herumdaͤmmernde Landleute gerichtet, vollkommen
zwecklos und thoͤricht erſcheinen, ja ſogar bedenk¬
lich auffallen wuͤrde. So ging er mitten in dem
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[272/0282] bemerkte, folgte er dem etwas ſchmaͤleren Zweige; nach einer Stunde wiederholte ſich der gleiche Irrthum, indem die Straße ſich abermals in eine unmerklich kleinere abzweigte, und endlich war Heinrich, auf einem ſchmalen holperigen Fahrweg gehend, weit ſeitwaͤrts von der Heerſtraße und in das Innere des alten Landes gerathen. Er ging uͤber dunkle Hoͤhen, durch Gehoͤlze, uͤber Feld- und Wieſenfluren, an Doͤrfern voruͤber, deren ſchwache Umriſſe oder matte Lichter weit vom Wege lagen; er begegnete einzelnen unkenntlichen Menſchen, welche ihn ebenſo wenig erkennen moch¬ ten und behutſam gruͤßten oder auch ſchweigend vorbeigingen. Aber er fragte Niemanden nach dem Wege, da er einen naͤheren Ort in der Rich¬ tung nach der Schweiz nicht zu nennen wußte, und nach der letzteren am wenigſten fragen mochte in der Ueberzeugung, daß die Frage ſo tief im fremden Lande, auf naͤchtlichen Wegen an herumdaͤmmernde Landleute gerichtet, vollkommen zwecklos und thoͤricht erſcheinen, ja ſogar bedenk¬ lich auffallen wuͤrde. So ging er mitten in dem civiliſirteſten Welttheil wie in einer unbewohnten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/282>, abgerufen am 25.11.2024.