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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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abwehrend, und rief halb ängstlich, halb lachend:
"Herr Lys! Herr Lys! ich bitte Sie! Sehen
Sie denn nicht, daß ich heute in meinen Alltags¬
kleidern stecke und nicht mehr die Göttin der
Liebe bin?"

"O schöne, liebe Rosalie!" rief Lys und fuhr
fort mit schöner Beredsamkeit, "mehr als je sind
Sie die Schönheit und Liebe selbst und alles das,
was die Alten so tiefsinnig vergöttert haben!
Sie sind eine ganze Frau im edelsten Sinne des
Wortes, in Ihnen ist nur Anmuth und Wohl¬
wollen, und Sie verwandeln alles dazu, was um
Sie ist. O jetzt begreife ich, warum ich ein Un¬
getreuer und Wankelmüthiger war mein Leben
lang! Wie kann man treu und ganz sein, wo
man immer nur das halbe und durch Sonder¬
lichkeit getrübte Weib trifft, bald unfertig in sei¬
nem Bewußtsein, bald eigensinnig und überreif
in demselben? Sie sind das wahre Weib, in dem
der Mann seine Ruhe und seinen dauernden Trost
findet, Sie sind heiter und sich selber gleich, wie
der Stern der Venus, den Sie gestern trugen!
O verkennen Sie sich nicht, erkennen Sie Ihr

abwehrend, und rief halb aͤngſtlich, halb lachend:
»Herr Lys! Herr Lys! ich bitte Sie! Sehen
Sie denn nicht, daß ich heute in meinen Alltags¬
kleidern ſtecke und nicht mehr die Goͤttin der
Liebe bin?«

»O ſchoͤne, liebe Roſalie!« rief Lys und fuhr
fort mit ſchoͤner Beredſamkeit, »mehr als je ſind
Sie die Schoͤnheit und Liebe ſelbſt und alles das,
was die Alten ſo tiefſinnig vergoͤttert haben!
Sie ſind eine ganze Frau im edelſten Sinne des
Wortes, in Ihnen iſt nur Anmuth und Wohl¬
wollen, und Sie verwandeln alles dazu, was um
Sie iſt. O jetzt begreife ich, warum ich ein Un¬
getreuer und Wankelmuͤthiger war mein Leben
lang! Wie kann man treu und ganz ſein, wo
man immer nur das halbe und durch Sonder¬
lichkeit getruͤbte Weib trifft, bald unfertig in ſei¬
nem Bewußtſein, bald eigenſinnig und uͤberreif
in demſelben? Sie ſind das wahre Weib, in dem
der Mann ſeine Ruhe und ſeinen dauernden Troſt
findet, Sie ſind heiter und ſich ſelber gleich, wie
der Stern der Venus, den Sie geſtern trugen!
O verkennen Sie ſich nicht, erkennen Sie Ihr

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[330/0340] abwehrend, und rief halb aͤngſtlich, halb lachend: »Herr Lys! Herr Lys! ich bitte Sie! Sehen Sie denn nicht, daß ich heute in meinen Alltags¬ kleidern ſtecke und nicht mehr die Goͤttin der Liebe bin?« »O ſchoͤne, liebe Roſalie!« rief Lys und fuhr fort mit ſchoͤner Beredſamkeit, »mehr als je ſind Sie die Schoͤnheit und Liebe ſelbſt und alles das, was die Alten ſo tiefſinnig vergoͤttert haben! Sie ſind eine ganze Frau im edelſten Sinne des Wortes, in Ihnen iſt nur Anmuth und Wohl¬ wollen, und Sie verwandeln alles dazu, was um Sie iſt. O jetzt begreife ich, warum ich ein Un¬ getreuer und Wankelmuͤthiger war mein Leben lang! Wie kann man treu und ganz ſein, wo man immer nur das halbe und durch Sonder¬ lichkeit getruͤbte Weib trifft, bald unfertig in ſei¬ nem Bewußtſein, bald eigenſinnig und uͤberreif in demſelben? Sie ſind das wahre Weib, in dem der Mann ſeine Ruhe und ſeinen dauernden Troſt findet, Sie ſind heiter und ſich ſelber gleich, wie der Stern der Venus, den Sie geſtern trugen! O verkennen Sie ſich nicht, erkennen Sie Ihr

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/340>, abgerufen am 22.11.2024.