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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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unverwandt nach ihnen, wie auf eine höhere Er¬
scheinung, indem ich sprach:

"Warum sollte dies nicht ein edler und schö¬
ner Beruf sein, immer und allein vor den Wer¬
ken Gottes zu sitzen, die sich noch am heutigen
Tag in ihrer Unschuld und ganzen Schönheit
erhalten haben, sie zu erkennen und zu verehren
und ihn dadurch anzubeten, daß man sie in ihrem
Frieden wieder zu geben versucht? Wenn man
nur ein einfältiges Sträuchlein abzeichnet, so
empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige,
weil derselbe so gewachsen ist und nicht anders
nach den Gesetzen des Schöpfers; wenn man
aber erst fähig ist, einen ganzen Wald oder ein
weites Feld mit seinem Himmel wahr und treu
zu malen, und wenn man endlich dergleichen aus
seinem Inneren selbst hervorbringen kann, ohne
Vorbild, Wälder, Thäler und Gebirgszüge, oder
nur kleine Erdwinkel, frei und neu, und doch
nicht anders, als ob sie irgendwo gewachsen und
sichtbar sein müßten, so dünkt mir diese Kunst
eine Art wahren Nachgenusses der Schöpfung zu
sein. Da lässet man die Bäume in den Himmel

unverwandt nach ihnen, wie auf eine hoͤhere Er¬
ſcheinung, indem ich ſprach:

»Warum ſollte dies nicht ein edler und ſchoͤ¬
ner Beruf ſein, immer und allein vor den Wer¬
ken Gottes zu ſitzen, die ſich noch am heutigen
Tag in ihrer Unſchuld und ganzen Schoͤnheit
erhalten haben, ſie zu erkennen und zu verehren
und ihn dadurch anzubeten, daß man ſie in ihrem
Frieden wieder zu geben verſucht? Wenn man
nur ein einfaͤltiges Straͤuchlein abzeichnet, ſo
empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige,
weil derſelbe ſo gewachſen iſt und nicht anders
nach den Geſetzen des Schoͤpfers; wenn man
aber erſt faͤhig iſt, einen ganzen Wald oder ein
weites Feld mit ſeinem Himmel wahr und treu
zu malen, und wenn man endlich dergleichen aus
ſeinem Inneren ſelbſt hervorbringen kann, ohne
Vorbild, Waͤlder, Thaͤler und Gebirgszuͤge, oder
nur kleine Erdwinkel, frei und neu, und doch
nicht anders, als ob ſie irgendwo gewachſen und
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[70/0080] unverwandt nach ihnen, wie auf eine hoͤhere Er¬ ſcheinung, indem ich ſprach: »Warum ſollte dies nicht ein edler und ſchoͤ¬ ner Beruf ſein, immer und allein vor den Wer¬ ken Gottes zu ſitzen, die ſich noch am heutigen Tag in ihrer Unſchuld und ganzen Schoͤnheit erhalten haben, ſie zu erkennen und zu verehren und ihn dadurch anzubeten, daß man ſie in ihrem Frieden wieder zu geben verſucht? Wenn man nur ein einfaͤltiges Straͤuchlein abzeichnet, ſo empfindet man eine Ehrfurcht vor jedem Zweige, weil derſelbe ſo gewachſen iſt und nicht anders nach den Geſetzen des Schoͤpfers; wenn man aber erſt faͤhig iſt, einen ganzen Wald oder ein weites Feld mit ſeinem Himmel wahr und treu zu malen, und wenn man endlich dergleichen aus ſeinem Inneren ſelbſt hervorbringen kann, ohne Vorbild, Waͤlder, Thaͤler und Gebirgszuͤge, oder nur kleine Erdwinkel, frei und neu, und doch nicht anders, als ob ſie irgendwo gewachſen und ſichtbar ſein muͤßten, ſo duͤnkt mir dieſe Kunſt eine Art wahren Nachgenuſſes der Schoͤpfung zu ſein. Da laͤſſet man die Baͤume in den Himmel

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/80>, abgerufen am 07.05.2024.