Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

"Die Landschaftsmalerei, die ich im Sinne
habe, ist nicht sowohl, was Ihr hiermit darunter
versteht, Herr Vetter! als etwas ganz Anderes!"

"Nun, und das wäre?"

"Sie besteht nicht darin, daß man merkwür¬
dige und berühmte Orte aufsucht und nachmacht,
sondern darin, daß man die stille Herrlichkeit und
Schönheit der Natur betrachtet und abzubilden
sucht, manchmal eine ganze Aussicht, wie diesen
See mit den Wäldern und Bergen, manchmal
einen einzigen Baum, ja nur ein Stücklein Was¬
ser und Himmel."

Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, son¬
dern auf eine Fortsetzung zu warten schien, fuhr
ich auch fort und gerieth nun meinerseits in eine
Begeisterung und Beredsamkeit, die ich früher
nicht gekannt hatte. Der zwischen Sonnenglanz
und Waldesschatten schwebende See ruhte maje¬
stätisch vor den klaren Fenstern, von fernem
Bergrücken schienen einige schlanke Eichen, die in
die himmelhohe Sonntagsluft stiegen, mir zuzu¬
winken, fern, leise, aber eindringlich; ich blickte

»Die Landſchaftsmalerei, die ich im Sinne
habe, iſt nicht ſowohl, was Ihr hiermit darunter
verſteht, Herr Vetter! als etwas ganz Anderes!«

»Nun, und das waͤre?«

»Sie beſteht nicht darin, daß man merkwuͤr¬
dige und beruͤhmte Orte aufſucht und nachmacht,
ſondern darin, daß man die ſtille Herrlichkeit und
Schoͤnheit der Natur betrachtet und abzubilden
ſucht, manchmal eine ganze Ausſicht, wie dieſen
See mit den Waͤldern und Bergen, manchmal
einen einzigen Baum, ja nur ein Stuͤcklein Waſ¬
ſer und Himmel.«

Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, ſon¬
dern auf eine Fortſetzung zu warten ſchien, fuhr
ich auch fort und gerieth nun meinerſeits in eine
Begeiſterung und Beredſamkeit, die ich fruͤher
nicht gekannt hatte. Der zwiſchen Sonnenglanz
und Waldesſchatten ſchwebende See ruhte maje¬
ſtaͤtiſch vor den klaren Fenſtern, von fernem
Bergruͤcken ſchienen einige ſchlanke Eichen, die in
die himmelhohe Sonntagsluft ſtiegen, mir zuzu¬
winken, fern, leiſe, aber eindringlich; ich blickte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0079" n="69"/>
        <p>»Die Land&#x017F;chaftsmalerei, die ich im Sinne<lb/>
habe, i&#x017F;t nicht &#x017F;owohl, was Ihr hiermit darunter<lb/>
ver&#x017F;teht, Herr Vetter! als etwas ganz Anderes!«</p><lb/>
        <p>»Nun, und das wa&#x0364;re?«</p><lb/>
        <p>»Sie be&#x017F;teht nicht darin, daß man merkwu&#x0364;<lb/>
dige und beru&#x0364;hmte Orte auf&#x017F;ucht und nachmacht,<lb/>
&#x017F;ondern darin, daß man die &#x017F;tille Herrlichkeit und<lb/>
Scho&#x0364;nheit der Natur betrachtet und abzubilden<lb/>
&#x017F;ucht, manchmal eine ganze Aus&#x017F;icht, wie die&#x017F;en<lb/>
See mit den Wa&#x0364;ldern und Bergen, manchmal<lb/>
einen einzigen Baum, ja nur ein Stu&#x0364;cklein Wa&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;er und Himmel.«</p><lb/>
        <p>Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, &#x017F;on¬<lb/>
dern auf eine Fort&#x017F;etzung zu warten &#x017F;chien, fuhr<lb/>
ich auch fort und gerieth nun meiner&#x017F;eits in eine<lb/>
Begei&#x017F;terung und Bered&#x017F;amkeit, die ich fru&#x0364;her<lb/>
nicht gekannt hatte. Der zwi&#x017F;chen Sonnenglanz<lb/>
und Waldes&#x017F;chatten &#x017F;chwebende See ruhte maje¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;ch vor den klaren Fen&#x017F;tern, von fernem<lb/>
Bergru&#x0364;cken &#x017F;chienen einige &#x017F;chlanke Eichen, die in<lb/>
die himmelhohe Sonntagsluft &#x017F;tiegen, mir zuzu¬<lb/>
winken, fern, lei&#x017F;e, aber eindringlich; ich blickte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0079] »Die Landſchaftsmalerei, die ich im Sinne habe, iſt nicht ſowohl, was Ihr hiermit darunter verſteht, Herr Vetter! als etwas ganz Anderes!« »Nun, und das waͤre?« »Sie beſteht nicht darin, daß man merkwuͤr¬ dige und beruͤhmte Orte aufſucht und nachmacht, ſondern darin, daß man die ſtille Herrlichkeit und Schoͤnheit der Natur betrachtet und abzubilden ſucht, manchmal eine ganze Ausſicht, wie dieſen See mit den Waͤldern und Bergen, manchmal einen einzigen Baum, ja nur ein Stuͤcklein Waſ¬ ſer und Himmel.« Da der Vetter hierauf nichts entgegnete, ſon¬ dern auf eine Fortſetzung zu warten ſchien, fuhr ich auch fort und gerieth nun meinerſeits in eine Begeiſterung und Beredſamkeit, die ich fruͤher nicht gekannt hatte. Der zwiſchen Sonnenglanz und Waldesſchatten ſchwebende See ruhte maje¬ ſtaͤtiſch vor den klaren Fenſtern, von fernem Bergruͤcken ſchienen einige ſchlanke Eichen, die in die himmelhohe Sonntagsluft ſtiegen, mir zuzu¬ winken, fern, leiſe, aber eindringlich; ich blickte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/79
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/79>, abgerufen am 06.05.2024.