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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervor¬
ging. Ich fügte, einmal im Zuge, mit Andacht
die nächsten Gräser und Würzelchen des Bodens
hinzu, und sah nun auf meinem Blatte eines jener
frommen nazarenischen Stengelbäumchen, welche
auf den Bildern der alten Kirchenmaler und
ihrer heutigen Epigonen den Horizont so anmu¬
thig und naiv durchschneiden. Ich war zufrieden
mit meiner bescheidenen Arbeit und betrachtete sie
noch lange abwechselnd mit der schlanken Esche,
die sich im leisen Abendhauche wiegte und mir
wie ein freundlicher Himmelsbote erschien. Als
ob ich Wunder was verrichtet hatte, zog ich hoch
vergnügt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten
begierig waren, die Früchte meiner mit so viel
Anspruch unternommenen Waldfahrt zu sehen.
Nachdem ich aber mein Bäumlein mit seinen
höchstens vier Dutzend Blättern hervorgezogen,
löste sich die Erwartung in ein allgemeines Lä¬
cheln auf, welches bei den Unbefangensten zum
Gelächter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß
man doch gleich ein junges Eschchen erkannte,
und er munterte mich auf, unverdrossen fortzu¬

II. 4

zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervor¬
ging. Ich fuͤgte, einmal im Zuge, mit Andacht
die naͤchſten Graͤſer und Wuͤrzelchen des Bodens
hinzu, und ſah nun auf meinem Blatte eines jener
frommen nazareniſchen Stengelbaͤumchen, welche
auf den Bildern der alten Kirchenmaler und
ihrer heutigen Epigonen den Horizont ſo anmu¬
thig und naiv durchſchneiden. Ich war zufrieden
mit meiner beſcheidenen Arbeit und betrachtete ſie
noch lange abwechſelnd mit der ſchlanken Eſche,
die ſich im leiſen Abendhauche wiegte und mir
wie ein freundlicher Himmelsbote erſchien. Als
ob ich Wunder was verrichtet hatte, zog ich hoch
vergnuͤgt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten
begierig waren, die Fruͤchte meiner mit ſo viel
Anſpruch unternommenen Waldfahrt zu ſehen.
Nachdem ich aber mein Baͤumlein mit ſeinen
hoͤchſtens vier Dutzend Blaͤttern hervorgezogen,
loͤſte ſich die Erwartung in ein allgemeines Laͤ¬
cheln auf, welches bei den Unbefangenſten zum
Gelaͤchter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß
man doch gleich ein junges Eſchchen erkannte,
und er munterte mich auf, unverdroſſen fortzu¬

II. 4
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[49/0059] zaghaftes, aber ziemlich treues Gebilde hervor¬ ging. Ich fuͤgte, einmal im Zuge, mit Andacht die naͤchſten Graͤſer und Wuͤrzelchen des Bodens hinzu, und ſah nun auf meinem Blatte eines jener frommen nazareniſchen Stengelbaͤumchen, welche auf den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen Epigonen den Horizont ſo anmu¬ thig und naiv durchſchneiden. Ich war zufrieden mit meiner beſcheidenen Arbeit und betrachtete ſie noch lange abwechſelnd mit der ſchlanken Eſche, die ſich im leiſen Abendhauche wiegte und mir wie ein freundlicher Himmelsbote erſchien. Als ob ich Wunder was verrichtet hatte, zog ich hoch vergnuͤgt dem Dorfe zu, wo meine Verwandten begierig waren, die Fruͤchte meiner mit ſo viel Anſpruch unternommenen Waldfahrt zu ſehen. Nachdem ich aber mein Baͤumlein mit ſeinen hoͤchſtens vier Dutzend Blaͤttern hervorgezogen, loͤſte ſich die Erwartung in ein allgemeines Laͤ¬ cheln auf, welches bei den Unbefangenſten zum Gelaͤchter wurde; nur dem Oheim gefiel es, daß man doch gleich ein junges Eſchchen erkannte, und er munterte mich auf, unverdroſſen fortzu¬ II. 4

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/59>, abgerufen am 06.05.2024.