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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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dem guten Kinde. Der Schulmeister wollte sich
umsehen, ob für den Winter eine geeignete Woh¬
nung zu finden wäre, indem er doch allmälig
sein Kind mit der Welt mehr in Berührung brin¬
gen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten
sich entwickeln zu lassen. Es sagte ihm jedoch
keine Gelegenheit zu und er behielt sich vor, lieber
im nächsten Jahre ein kleines Haus in der Nähe
der Stadt zu kaufen und ganz überzusiedeln.
Diese Aussicht erfüllte mich theils mit Freuden,
theils aber hätte ich mir Anna doch lieber für
immer als das Kleinod jener grünen entlegenen
Thäler gedacht, die mir einmal so lieb geworden.
Indessen hatte ich das heimliche Vergnügen, zu
sehen, wie meine Mutter Freundschaft schloß mit
Anna, und wie diese eben so tiefen Respect als
herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu
meiner allergrößten Genugthuung gern zu zeigen
schien. Wir wetteiferten nun förmlich, ich dem
Schulmeister meine Achtung darzuthun und sie
meiner Mutter, und über diesem angenehmen
Streite fanden wir keine Zeit, mit einander selbst
zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur

dem guten Kinde. Der Schulmeiſter wollte ſich
umſehen, ob fuͤr den Winter eine geeignete Woh¬
nung zu finden waͤre, indem er doch allmaͤlig
ſein Kind mit der Welt mehr in Beruͤhrung brin¬
gen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten
ſich entwickeln zu laſſen. Es ſagte ihm jedoch
keine Gelegenheit zu und er behielt ſich vor, lieber
im naͤchſten Jahre ein kleines Haus in der Naͤhe
der Stadt zu kaufen und ganz uͤberzuſiedeln.
Dieſe Ausſicht erfuͤllte mich theils mit Freuden,
theils aber haͤtte ich mir Anna doch lieber fuͤr
immer als das Kleinod jener gruͤnen entlegenen
Thaͤler gedacht, die mir einmal ſo lieb geworden.
Indeſſen hatte ich das heimliche Vergnuͤgen, zu
ſehen, wie meine Mutter Freundſchaft ſchloß mit
Anna, und wie dieſe eben ſo tiefen Reſpect als
herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu
meiner allergroͤßten Genugthuung gern zu zeigen
ſchien. Wir wetteiferten nun foͤrmlich, ich dem
Schulmeiſter meine Achtung darzuthun und ſie
meiner Mutter, und uͤber dieſem angenehmen
Streite fanden wir keine Zeit, mit einander ſelbſt
zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur

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[290/0300] dem guten Kinde. Der Schulmeiſter wollte ſich umſehen, ob fuͤr den Winter eine geeignete Woh¬ nung zu finden waͤre, indem er doch allmaͤlig ſein Kind mit der Welt mehr in Beruͤhrung brin¬ gen mußte, um ihre Anlagen nach allen Seiten ſich entwickeln zu laſſen. Es ſagte ihm jedoch keine Gelegenheit zu und er behielt ſich vor, lieber im naͤchſten Jahre ein kleines Haus in der Naͤhe der Stadt zu kaufen und ganz uͤberzuſiedeln. Dieſe Ausſicht erfuͤllte mich theils mit Freuden, theils aber haͤtte ich mir Anna doch lieber fuͤr immer als das Kleinod jener gruͤnen entlegenen Thaͤler gedacht, die mir einmal ſo lieb geworden. Indeſſen hatte ich das heimliche Vergnuͤgen, zu ſehen, wie meine Mutter Freundſchaft ſchloß mit Anna, und wie dieſe eben ſo tiefen Reſpect als herzliche Zuneigung zu jener bezeigte und zu meiner allergroͤßten Genugthuung gern zu zeigen ſchien. Wir wetteiferten nun foͤrmlich, ich dem Schulmeiſter meine Achtung darzuthun und ſie meiner Mutter, und uͤber dieſem angenehmen Streite fanden wir keine Zeit, mit einander ſelbſt zu verkehren, oder wir verkehrten vielmehr nur

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/300>, abgerufen am 23.11.2024.