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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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der Hand zu nehmen und anzureden. Allein
dies Letztere schien mir eben noch himmelweit zu
liegen und eine reine Unmöglichkeit; lieber hätte
ich einen Drachen geküßt, als so leichtsinnig die
Schranke gebrochen, obgleich es vielleicht nur
an diesem Drachenkuß, an diesem ersten Worte
hing, die schöne Jungfrau Vertraulichkeit aus der
Verzauberung wieder zu gewinnen. Allein wer
konnte wissen! Ein Sperling in der Hand ist
besser, als ein Adler auf dem Dache! Lieber
noch dies stumme Nahsein sicher behalten, als
durch die beleidigte Ehre genöthigt zu sein, auf
immer zu scheiden! Dadurch ward ich immer mehr
und mehr verhärtet, und zuletzt ward es mir un¬
möglich, das gleichgültigste Wort an Anna zu
richten; so kam es, als sie auch nichts zu mir
sagte, daß nach einer sehr stillschweigenden Ueber¬
einkunft wir für einander gar nicht da waren,
ohne uns deswegen zu meiden. Sie kam eben
so oft zu uns herüber, wenn ich da war, wie
sonst, und ich besuchte den Schulmeister nach wie
vor, wo sie sich dann zufrieden herumzubewegen
schien, ohne sich um mich zu bekümmern. In¬

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der Hand zu nehmen und anzureden. Allein
dies Letztere ſchien mir eben noch himmelweit zu
liegen und eine reine Unmoͤglichkeit; lieber haͤtte
ich einen Drachen gekuͤßt, als ſo leichtſinnig die
Schranke gebrochen, obgleich es vielleicht nur
an dieſem Drachenkuß, an dieſem erſten Worte
hing, die ſchoͤne Jungfrau Vertraulichkeit aus der
Verzauberung wieder zu gewinnen. Allein wer
konnte wiſſen! Ein Sperling in der Hand iſt
beſſer, als ein Adler auf dem Dache! Lieber
noch dies ſtumme Nahſein ſicher behalten, als
durch die beleidigte Ehre genoͤthigt zu ſein, auf
immer zu ſcheiden! Dadurch ward ich immer mehr
und mehr verhaͤrtet, und zuletzt ward es mir un¬
moͤglich, das gleichguͤltigſte Wort an Anna zu
richten; ſo kam es, als ſie auch nichts zu mir
ſagte, daß nach einer ſehr ſtillſchweigenden Ueber¬
einkunft wir fuͤr einander gar nicht da waren,
ohne uns deswegen zu meiden. Sie kam eben
ſo oft zu uns heruͤber, wenn ich da war, wie
ſonſt, und ich beſuchte den Schulmeiſter nach wie
vor, wo ſie ſich dann zufrieden herumzubewegen
ſchien, ohne ſich um mich zu bekuͤmmern. In¬

17 *
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[265/0275] der Hand zu nehmen und anzureden. Allein dies Letztere ſchien mir eben noch himmelweit zu liegen und eine reine Unmoͤglichkeit; lieber haͤtte ich einen Drachen gekuͤßt, als ſo leichtſinnig die Schranke gebrochen, obgleich es vielleicht nur an dieſem Drachenkuß, an dieſem erſten Worte hing, die ſchoͤne Jungfrau Vertraulichkeit aus der Verzauberung wieder zu gewinnen. Allein wer konnte wiſſen! Ein Sperling in der Hand iſt beſſer, als ein Adler auf dem Dache! Lieber noch dies ſtumme Nahſein ſicher behalten, als durch die beleidigte Ehre genoͤthigt zu ſein, auf immer zu ſcheiden! Dadurch ward ich immer mehr und mehr verhaͤrtet, und zuletzt ward es mir un¬ moͤglich, das gleichguͤltigſte Wort an Anna zu richten; ſo kam es, als ſie auch nichts zu mir ſagte, daß nach einer ſehr ſtillſchweigenden Ueber¬ einkunft wir fuͤr einander gar nicht da waren, ohne uns deswegen zu meiden. Sie kam eben ſo oft zu uns heruͤber, wenn ich da war, wie ſonſt, und ich beſuchte den Schulmeiſter nach wie vor, wo ſie ſich dann zufrieden herumzubewegen ſchien, ohne ſich um mich zu bekuͤmmern. In¬ 17 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/275>, abgerufen am 23.11.2024.