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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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der Anna vor. Wir sahen auf den Boden und
boten uns die Fingerspitzen, die sich kaum be¬
rührten, wobei sie, wie ich glaube, einen kleinen
höflichen Knix machte. Ich sagte ganz verlegen:
Sie sind also wieder zurückgekehrt? worauf sie
erwiederte: Ja -- mit dem Tone eines Glöck¬
chens, welches nicht recht weiß, ob es anfangen
soll, Mittag oder Vesper zu läuten. Hierauf sah
ich mich wieder aus dem Mädchenkreise heraus¬
versetzt, ohne zu wissen auf welche Weise, und
machte mir eifrig mit einer Katze zu schaffen, in¬
dessen ich Anna verstohlen betrachtete. Sie war
eine ganz andere Gestalt geworden, schmal und
hoch, von einem schwarzen Seidenkleide umwallt,
ihr Goldhaar lag schlicht und vornehm gebunden
und ließ eine sorgfältige Toilette ahnen, während
früher manche Löckchen sich auf eigne Hand ge¬
kräuselt und zwischen den Flechten hervorgeguckt
hatten. Die Gesichtszüge waren in ihrer Eigen¬
thümlichkeit ganz gleich geblieben, nur hielten sie
sich nun viel ruhiger, und die armen, schönen
blauen Augen hatten ihre Freiheit verloren und
lagen in den Banden vornehm bewußter Sitte.

der Anna vor. Wir ſahen auf den Boden und
boten uns die Fingerſpitzen, die ſich kaum be¬
ruͤhrten, wobei ſie, wie ich glaube, einen kleinen
hoͤflichen Knix machte. Ich ſagte ganz verlegen:
Sie ſind alſo wieder zuruͤckgekehrt? worauf ſie
erwiederte: Ja — mit dem Tone eines Gloͤck¬
chens, welches nicht recht weiß, ob es anfangen
ſoll, Mittag oder Veſper zu laͤuten. Hierauf ſah
ich mich wieder aus dem Maͤdchenkreiſe heraus¬
verſetzt, ohne zu wiſſen auf welche Weiſe, und
machte mir eifrig mit einer Katze zu ſchaffen, in¬
deſſen ich Anna verſtohlen betrachtete. Sie war
eine ganz andere Geſtalt geworden, ſchmal und
hoch, von einem ſchwarzen Seidenkleide umwallt,
ihr Goldhaar lag ſchlicht und vornehm gebunden
und ließ eine ſorgfaͤltige Toilette ahnen, waͤhrend
fruͤher manche Loͤckchen ſich auf eigne Hand ge¬
kraͤuſelt und zwiſchen den Flechten hervorgeguckt
hatten. Die Geſichtszuͤge waren in ihrer Eigen¬
thuͤmlichkeit ganz gleich geblieben, nur hielten ſie
ſich nun viel ruhiger, und die armen, ſchoͤnen
blauen Augen hatten ihre Freiheit verloren und
lagen in den Banden vornehm bewußter Sitte.

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[229/0239] der Anna vor. Wir ſahen auf den Boden und boten uns die Fingerſpitzen, die ſich kaum be¬ ruͤhrten, wobei ſie, wie ich glaube, einen kleinen hoͤflichen Knix machte. Ich ſagte ganz verlegen: Sie ſind alſo wieder zuruͤckgekehrt? worauf ſie erwiederte: Ja — mit dem Tone eines Gloͤck¬ chens, welches nicht recht weiß, ob es anfangen ſoll, Mittag oder Veſper zu laͤuten. Hierauf ſah ich mich wieder aus dem Maͤdchenkreiſe heraus¬ verſetzt, ohne zu wiſſen auf welche Weiſe, und machte mir eifrig mit einer Katze zu ſchaffen, in¬ deſſen ich Anna verſtohlen betrachtete. Sie war eine ganz andere Geſtalt geworden, ſchmal und hoch, von einem ſchwarzen Seidenkleide umwallt, ihr Goldhaar lag ſchlicht und vornehm gebunden und ließ eine ſorgfaͤltige Toilette ahnen, waͤhrend fruͤher manche Loͤckchen ſich auf eigne Hand ge¬ kraͤuſelt und zwiſchen den Flechten hervorgeguckt hatten. Die Geſichtszuͤge waren in ihrer Eigen¬ thuͤmlichkeit ganz gleich geblieben, nur hielten ſie ſich nun viel ruhiger, und die armen, ſchoͤnen blauen Augen hatten ihre Freiheit verloren und lagen in den Banden vornehm bewußter Sitte.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/239>, abgerufen am 24.11.2024.