Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

"Oho!" dachte ich, "das sind feine Geschichten!"
und indem ich so dachte, sah ich einen anderen
Schatten aus dem Fenster der mittleren Base,
welche eine Treppe tiefer schlief, sich auf den Ast
eines nahen Baumes schwingen und flink zur
Erde gleiten; kaum war er aber fünfzig Schritte
entfernt, so brach er, den fernen Nachtschwärmern
antwortend, in ein mörderliches Jauchzen aus,
welches weithin widerhallte.

Mit sehr gemischten Empfindungen machte
ich vorsichtig das Fenster zu und suchte in mei¬
nem boshaften Leinwandlabyrinth Mädchen, Liebe,
Mainacht und Verdruß zu vergessen.

Noch gemischtere Gefühle jedoch kehrten zu¬
rück, als ich am Morgen meine gemachten Er¬
fahrungen bedachte. Zuerst machte sich eine Art
von Zorn geltend gegen meine Basen und ihre
Liebhaber, oder vielmehr eine gewisse Unbehag¬
lichkeit, mir bekannte und nahstehende Mädchen
in einem engen Verhältniß zu fremden Personen
zu sehen. Es machte mir den Eindruck, wie
wenn in einem heimlichen verschlossenen Garten
allerlei Freimaurerei getrieben würde und ich als

II. 15

»Oho!« dachte ich, »das ſind feine Geſchichten!«
und indem ich ſo dachte, ſah ich einen anderen
Schatten aus dem Fenſter der mittleren Baſe,
welche eine Treppe tiefer ſchlief, ſich auf den Aſt
eines nahen Baumes ſchwingen und flink zur
Erde gleiten; kaum war er aber fuͤnfzig Schritte
entfernt, ſo brach er, den fernen Nachtſchwaͤrmern
antwortend, in ein moͤrderliches Jauchzen aus,
welches weithin widerhallte.

Mit ſehr gemiſchten Empfindungen machte
ich vorſichtig das Fenſter zu und ſuchte in mei¬
nem boshaften Leinwandlabyrinth Maͤdchen, Liebe,
Mainacht und Verdruß zu vergeſſen.

Noch gemiſchtere Gefuͤhle jedoch kehrten zu¬
ruͤck, als ich am Morgen meine gemachten Er¬
fahrungen bedachte. Zuerſt machte ſich eine Art
von Zorn geltend gegen meine Baſen und ihre
Liebhaber, oder vielmehr eine gewiſſe Unbehag¬
lichkeit, mir bekannte und nahſtehende Maͤdchen
in einem engen Verhaͤltniß zu fremden Perſonen
zu ſehen. Es machte mir den Eindruck, wie
wenn in einem heimlichen verſchloſſenen Garten
allerlei Freimaurerei getrieben wuͤrde und ich als

II. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0235" n="225"/>
»Oho!« dachte ich, »das &#x017F;ind feine Ge&#x017F;chichten!«<lb/>
und indem ich &#x017F;o dachte, &#x017F;ah ich einen anderen<lb/>
Schatten aus dem Fen&#x017F;ter der mittleren Ba&#x017F;e,<lb/>
welche eine Treppe tiefer &#x017F;chlief, &#x017F;ich auf den A&#x017F;t<lb/>
eines nahen Baumes &#x017F;chwingen und flink zur<lb/>
Erde gleiten; kaum war er aber fu&#x0364;nfzig Schritte<lb/>
entfernt, &#x017F;o brach er, den fernen Nacht&#x017F;chwa&#x0364;rmern<lb/>
antwortend, in ein mo&#x0364;rderliches Jauchzen aus,<lb/>
welches weithin widerhallte.</p><lb/>
        <p>Mit &#x017F;ehr gemi&#x017F;chten Empfindungen machte<lb/>
ich vor&#x017F;ichtig das Fen&#x017F;ter zu und &#x017F;uchte in mei¬<lb/>
nem boshaften Leinwandlabyrinth Ma&#x0364;dchen, Liebe,<lb/>
Mainacht und Verdruß zu verge&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Noch gemi&#x017F;chtere Gefu&#x0364;hle jedoch kehrten zu¬<lb/>
ru&#x0364;ck, als ich am Morgen meine gemachten Er¬<lb/>
fahrungen bedachte. Zuer&#x017F;t machte &#x017F;ich eine Art<lb/>
von Zorn geltend gegen meine Ba&#x017F;en und ihre<lb/>
Liebhaber, oder vielmehr eine gewi&#x017F;&#x017F;e Unbehag¬<lb/>
lichkeit, mir bekannte und nah&#x017F;tehende Ma&#x0364;dchen<lb/>
in einem engen Verha&#x0364;ltniß zu fremden Per&#x017F;onen<lb/>
zu &#x017F;ehen. Es machte mir den Eindruck, wie<lb/>
wenn in einem heimlichen ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Garten<lb/>
allerlei Freimaurerei getrieben wu&#x0364;rde und ich als<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">II. 15<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0235] »Oho!« dachte ich, »das ſind feine Geſchichten!« und indem ich ſo dachte, ſah ich einen anderen Schatten aus dem Fenſter der mittleren Baſe, welche eine Treppe tiefer ſchlief, ſich auf den Aſt eines nahen Baumes ſchwingen und flink zur Erde gleiten; kaum war er aber fuͤnfzig Schritte entfernt, ſo brach er, den fernen Nachtſchwaͤrmern antwortend, in ein moͤrderliches Jauchzen aus, welches weithin widerhallte. Mit ſehr gemiſchten Empfindungen machte ich vorſichtig das Fenſter zu und ſuchte in mei¬ nem boshaften Leinwandlabyrinth Maͤdchen, Liebe, Mainacht und Verdruß zu vergeſſen. Noch gemiſchtere Gefuͤhle jedoch kehrten zu¬ ruͤck, als ich am Morgen meine gemachten Er¬ fahrungen bedachte. Zuerſt machte ſich eine Art von Zorn geltend gegen meine Baſen und ihre Liebhaber, oder vielmehr eine gewiſſe Unbehag¬ lichkeit, mir bekannte und nahſtehende Maͤdchen in einem engen Verhaͤltniß zu fremden Perſonen zu ſehen. Es machte mir den Eindruck, wie wenn in einem heimlichen verſchloſſenen Garten allerlei Freimaurerei getrieben wuͤrde und ich als II. 15

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/235
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/235>, abgerufen am 01.05.2024.