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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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verstehen, daß sie mich nach Gefallen bewirthen
dürfe und ging wieder seine Wege.

Ich blieb einige Stunden bei ihr, ohne daß
wir viel sprachen; sie saß stillvergnügt neben mir
und schlief endlich lächelnd ein. Ueber ihre ge¬
schlossenen Augen ging eine leise Bewegung wie
das Wallen eines Vorhanges, hinter welchem et¬
was vorgeht, man ahnte, daß sich dort Bilder
in zartem, verjährtem Sonnenscheine zeigten und
die freundlichen Lippen verkündeten es in schwa¬
chen Regungen. Als ich mich erhob, um behut¬
sam fortzugehen, erwachte sie sogleich, hielt mich
an und betrachtete mich fremd; wie in ihrer
Person das meinem Dasein Vorhergegangene
groß und unvermittelt vor mir stand, mochte ich
als die Fortsetzung ihres Lebens, als ihre Zu¬
kunft dunkel und räthselhaft vor ihr stehen, da
meine Tracht wie meine Sprache von Allem ab¬
wich, in dem sie sich lebenslang bewegt hatte.
Sie schritt gedankenvoll in die Nebenkammer,
wo sie in einem hohen Schranke einen Vorrath
neuer Kleinigkeiten aufbewahrte, die sie von fah¬
renden Krämern zu kaufen pflegte, um sie gele¬

verſtehen, daß ſie mich nach Gefallen bewirthen
duͤrfe und ging wieder ſeine Wege.

Ich blieb einige Stunden bei ihr, ohne daß
wir viel ſprachen; ſie ſaß ſtillvergnuͤgt neben mir
und ſchlief endlich laͤchelnd ein. Ueber ihre ge¬
ſchloſſenen Augen ging eine leiſe Bewegung wie
das Wallen eines Vorhanges, hinter welchem et¬
was vorgeht, man ahnte, daß ſich dort Bilder
in zartem, verjaͤhrtem Sonnenſcheine zeigten und
die freundlichen Lippen verkuͤndeten es in ſchwa¬
chen Regungen. Als ich mich erhob, um behut¬
ſam fortzugehen, erwachte ſie ſogleich, hielt mich
an und betrachtete mich fremd; wie in ihrer
Perſon das meinem Daſein Vorhergegangene
groß und unvermittelt vor mir ſtand, mochte ich
als die Fortſetzung ihres Lebens, als ihre Zu¬
kunft dunkel und raͤthſelhaft vor ihr ſtehen, da
meine Tracht wie meine Sprache von Allem ab¬
wich, in dem ſie ſich lebenslang bewegt hatte.
Sie ſchritt gedankenvoll in die Nebenkammer,
wo ſie in einem hohen Schranke einen Vorrath
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[9/0019] verſtehen, daß ſie mich nach Gefallen bewirthen duͤrfe und ging wieder ſeine Wege. Ich blieb einige Stunden bei ihr, ohne daß wir viel ſprachen; ſie ſaß ſtillvergnuͤgt neben mir und ſchlief endlich laͤchelnd ein. Ueber ihre ge¬ ſchloſſenen Augen ging eine leiſe Bewegung wie das Wallen eines Vorhanges, hinter welchem et¬ was vorgeht, man ahnte, daß ſich dort Bilder in zartem, verjaͤhrtem Sonnenſcheine zeigten und die freundlichen Lippen verkuͤndeten es in ſchwa¬ chen Regungen. Als ich mich erhob, um behut¬ ſam fortzugehen, erwachte ſie ſogleich, hielt mich an und betrachtete mich fremd; wie in ihrer Perſon das meinem Daſein Vorhergegangene groß und unvermittelt vor mir ſtand, mochte ich als die Fortſetzung ihres Lebens, als ihre Zu¬ kunft dunkel und raͤthſelhaft vor ihr ſtehen, da meine Tracht wie meine Sprache von Allem ab¬ wich, in dem ſie ſich lebenslang bewegt hatte. Sie ſchritt gedankenvoll in die Nebenkammer, wo ſie in einem hohen Schranke einen Vorrath neuer Kleinigkeiten aufbewahrte, die ſie von fah¬ renden Kraͤmern zu kaufen pflegte, um ſie gele¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/19>, abgerufen am 26.04.2024.