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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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ander, nur wenn wir uns die geistlichen Bücher
übergaben, flüsterten wir einige Worte, oder wenn
wir Beide frei waren, ruhten wir behaglich neben
einander aus und neckten uns im Stillen, da die
Jugend einmal ihr Recht geltend machte. Als
der Tod eingetreten und die Frauen laut schluchz¬
ten, da zerfloß auch Anna in Thränen und konnte
sich nicht zufrieden geben, da sie doch der Todes¬
fall weniger berührte als mich, der ich als Enkel
der Todten, obgleich ernst und nachdenklich,
trockenen Auges blieb. Ich ward besorgt für das
arme Kind, welches immer heftiger weinte, und
fühlte mich sehr niedergeschlagen und unglücklich
noch zu der Trauer über den Tod hinzu; denn
ich konnte das zarte Mädchen nicht leiden sehen.
Ich führte sie in den Garten, streichelte ihr die
Wangen und bat sie inständigst, doch nicht so
sehr zu weinen. Da erheiterte sich ihr Gesicht,
wie die Sonne durch Regen, sie trocknete die
Augen und sah mich urplötzlich lächelnd an.

Wir genossen nun wieder freie Tage und ich
begleitete Anna zur Erholung sogleich nach Hause,
um dort zu bleiben bis zum Leichenbegängnisse.

II. 9

ander, nur wenn wir uns die geiſtlichen Buͤcher
uͤbergaben, fluͤſterten wir einige Worte, oder wenn
wir Beide frei waren, ruhten wir behaglich neben
einander aus und neckten uns im Stillen, da die
Jugend einmal ihr Recht geltend machte. Als
der Tod eingetreten und die Frauen laut ſchluchz¬
ten, da zerfloß auch Anna in Thraͤnen und konnte
ſich nicht zufrieden geben, da ſie doch der Todes¬
fall weniger beruͤhrte als mich, der ich als Enkel
der Todten, obgleich ernſt und nachdenklich,
trockenen Auges blieb. Ich ward beſorgt fuͤr das
arme Kind, welches immer heftiger weinte, und
fuͤhlte mich ſehr niedergeſchlagen und ungluͤcklich
noch zu der Trauer uͤber den Tod hinzu; denn
ich konnte das zarte Maͤdchen nicht leiden ſehen.
Ich fuͤhrte ſie in den Garten, ſtreichelte ihr die
Wangen und bat ſie inſtaͤndigſt, doch nicht ſo
ſehr zu weinen. Da erheiterte ſich ihr Geſicht,
wie die Sonne durch Regen, ſie trocknete die
Augen und ſah mich urploͤtzlich laͤchelnd an.

Wir genoſſen nun wieder freie Tage und ich
begleitete Anna zur Erholung ſogleich nach Hauſe,
um dort zu bleiben bis zum Leichenbegaͤngniſſe.

II. 9
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[129/0139] ander, nur wenn wir uns die geiſtlichen Buͤcher uͤbergaben, fluͤſterten wir einige Worte, oder wenn wir Beide frei waren, ruhten wir behaglich neben einander aus und neckten uns im Stillen, da die Jugend einmal ihr Recht geltend machte. Als der Tod eingetreten und die Frauen laut ſchluchz¬ ten, da zerfloß auch Anna in Thraͤnen und konnte ſich nicht zufrieden geben, da ſie doch der Todes¬ fall weniger beruͤhrte als mich, der ich als Enkel der Todten, obgleich ernſt und nachdenklich, trockenen Auges blieb. Ich ward beſorgt fuͤr das arme Kind, welches immer heftiger weinte, und fuͤhlte mich ſehr niedergeſchlagen und ungluͤcklich noch zu der Trauer uͤber den Tod hinzu; denn ich konnte das zarte Maͤdchen nicht leiden ſehen. Ich fuͤhrte ſie in den Garten, ſtreichelte ihr die Wangen und bat ſie inſtaͤndigſt, doch nicht ſo ſehr zu weinen. Da erheiterte ſich ihr Geſicht, wie die Sonne durch Regen, ſie trocknete die Augen und ſah mich urploͤtzlich laͤchelnd an. Wir genoſſen nun wieder freie Tage und ich begleitete Anna zur Erholung ſogleich nach Hauſe, um dort zu bleiben bis zum Leichenbegaͤngniſſe. II. 9

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/139>, abgerufen am 23.11.2024.