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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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büßen zu lassen und erklärten, der Tod meiner
Großmutter müsse sich mir recht einprägen, dies
würde mir für immer nützlich sein. Auf einem
Schemel sitzend, ein Buch auf den Knieen, mußte
ich mit vernehmlicher Stimme Gebete, Psalmen
und Sterbelieder lesen, erwarb mir zwar durch
meine Ausdauer die Gunst der Frauen, wofür
ich aber den schönen Sonnenschein nur von ferne
und den Tod beständig in der Nähe betrachten
durfte.

Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna
umsehen, obschon sie mein süßester Trost in mei¬
ner asketischen Lage war; da erschien sie, schüch¬
tern und manierlich, unversehens auf der Schwelle
der Krankenstube, um die ihr sehr entfernt Ver¬
wandte zu besuchen. Das junge Mädchen war
beliebt und geehrt unter den Bäuerinnen und
daher jetzt willkommen geheißen, und als sie sich,
nach einigem stillen Aufenthalte, anbot, mich im
Gebete abzulösen, wurde ihr dies gern gestattet,
und so blieb sie die noch übrige Sterbenszeit an
meiner Seite und sah mit mir die ringende
Flamme verlöschen. Wir sprachen selten mit ein¬

buͤßen zu laſſen und erklaͤrten, der Tod meiner
Großmutter muͤſſe ſich mir recht einpraͤgen, dies
wuͤrde mir fuͤr immer nuͤtzlich ſein. Auf einem
Schemel ſitzend, ein Buch auf den Knieen, mußte
ich mit vernehmlicher Stimme Gebete, Pſalmen
und Sterbelieder leſen, erwarb mir zwar durch
meine Ausdauer die Gunſt der Frauen, wofuͤr
ich aber den ſchoͤnen Sonnenſchein nur von ferne
und den Tod beſtaͤndig in der Naͤhe betrachten
durfte.

Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna
umſehen, obſchon ſie mein ſuͤßeſter Troſt in mei¬
ner asketiſchen Lage war; da erſchien ſie, ſchuͤch¬
tern und manierlich, unverſehens auf der Schwelle
der Krankenſtube, um die ihr ſehr entfernt Ver¬
wandte zu beſuchen. Das junge Maͤdchen war
beliebt und geehrt unter den Baͤuerinnen und
daher jetzt willkommen geheißen, und als ſie ſich,
nach einigem ſtillen Aufenthalte, anbot, mich im
Gebete abzuloͤſen, wurde ihr dies gern geſtattet,
und ſo blieb ſie die noch uͤbrige Sterbenszeit an
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[128/0138] buͤßen zu laſſen und erklaͤrten, der Tod meiner Großmutter muͤſſe ſich mir recht einpraͤgen, dies wuͤrde mir fuͤr immer nuͤtzlich ſein. Auf einem Schemel ſitzend, ein Buch auf den Knieen, mußte ich mit vernehmlicher Stimme Gebete, Pſalmen und Sterbelieder leſen, erwarb mir zwar durch meine Ausdauer die Gunſt der Frauen, wofuͤr ich aber den ſchoͤnen Sonnenſchein nur von ferne und den Tod beſtaͤndig in der Naͤhe betrachten durfte. Ich konnte mich gar nicht mehr nach Anna umſehen, obſchon ſie mein ſuͤßeſter Troſt in mei¬ ner asketiſchen Lage war; da erſchien ſie, ſchuͤch¬ tern und manierlich, unverſehens auf der Schwelle der Krankenſtube, um die ihr ſehr entfernt Ver¬ wandte zu beſuchen. Das junge Maͤdchen war beliebt und geehrt unter den Baͤuerinnen und daher jetzt willkommen geheißen, und als ſie ſich, nach einigem ſtillen Aufenthalte, anbot, mich im Gebete abzuloͤſen, wurde ihr dies gern geſtattet, und ſo blieb ſie die noch uͤbrige Sterbenszeit an meiner Seite und ſah mit mir die ringende Flamme verloͤſchen. Wir ſprachen ſelten mit ein¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/138>, abgerufen am 05.05.2024.