Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

hatte sie keine Ahnung von dem unheilvollen
Giftkraute, welches falsche Scham genannt wird
und in den frühesten Tagen des männlichen Le¬
bens um so mehr zu wuchern beginnt, als es
von der Insolenz der alten Menschen eher gehät¬
schelt und gepflegt, als unterschieden und ausge¬
reutet wird. Unter tausend Jugendfreunden und
Mitgliedern von Pestalozzi-Stiftungen giebt es
vielleicht keine zwölf, welche aus ihren eigenen
Erinnerungen sich noch auf das ABC des kind¬
lichen Gemüthes besinnen und wissen, wie sich
daraus die verhängnißvollen Worte bilden, und
man darf sie eigentlich nicht einmal darauf auf¬
merksam machen, sonst werfen sie sich sogleich auf
dieses Gebiet und errichten darüber ein Statut.

Auf Pfingsten ward einst ein großer jugend¬
licher Feldzug verabredet; sämmtliche kleine Mann¬
schaft, einige Hundert an der Zahl, sollte mit
klingendem Spiel ausrücken und, über Berg und
Thal marschirend, die bewaffnete Jugend einer
benachbarten Stadt besuchen, um mit derselben
gemeinschaftliche Paraden und Uebungen abzu¬
halten. Es herrschte eine allgemeine Aufregung,

I. 20

hatte ſie keine Ahnung von dem unheilvollen
Giftkraute, welches falſche Scham genannt wird
und in den fruͤheſten Tagen des maͤnnlichen Le¬
bens um ſo mehr zu wuchern beginnt, als es
von der Inſolenz der alten Menſchen eher gehaͤt¬
ſchelt und gepflegt, als unterſchieden und ausge¬
reutet wird. Unter tauſend Jugendfreunden und
Mitgliedern von Peſtalozzi-Stiftungen giebt es
vielleicht keine zwoͤlf, welche aus ihren eigenen
Erinnerungen ſich noch auf das ABC des kind¬
lichen Gemuͤthes beſinnen und wiſſen, wie ſich
daraus die verhaͤngnißvollen Worte bilden, und
man darf ſie eigentlich nicht einmal darauf auf¬
merkſam machen, ſonſt werfen ſie ſich ſogleich auf
dieſes Gebiet und errichten daruͤber ein Statut.

Auf Pfingſten ward einſt ein großer jugend¬
licher Feldzug verabredet; ſaͤmmtliche kleine Mann¬
ſchaft, einige Hundert an der Zahl, ſollte mit
klingendem Spiel ausruͤcken und, uͤber Berg und
Thal marſchirend, die bewaffnete Jugend einer
benachbarten Stadt beſuchen, um mit derſelben
gemeinſchaftliche Paraden und Uebungen abzu¬
halten. Es herrſchte eine allgemeine Aufregung,

I. 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0319" n="305"/>
hatte &#x017F;ie keine Ahnung von dem unheilvollen<lb/>
Giftkraute, welches fal&#x017F;che Scham genannt wird<lb/>
und in den fru&#x0364;he&#x017F;ten Tagen des ma&#x0364;nnlichen Le¬<lb/>
bens um &#x017F;o mehr zu wuchern beginnt, als es<lb/>
von der In&#x017F;olenz der alten Men&#x017F;chen eher geha&#x0364;<lb/>
&#x017F;chelt und gepflegt, als unter&#x017F;chieden und ausge¬<lb/>
reutet wird. Unter tau&#x017F;end Jugendfreunden und<lb/>
Mitgliedern von Pe&#x017F;talozzi-Stiftungen giebt es<lb/>
vielleicht keine zwo&#x0364;lf, welche aus ihren eigenen<lb/>
Erinnerungen &#x017F;ich noch auf das ABC des kind¬<lb/>
lichen Gemu&#x0364;thes be&#x017F;innen und wi&#x017F;&#x017F;en, wie &#x017F;ich<lb/>
daraus die verha&#x0364;ngnißvollen Worte bilden, und<lb/>
man darf &#x017F;ie eigentlich nicht einmal darauf auf¬<lb/>
merk&#x017F;am machen, &#x017F;on&#x017F;t werfen &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;ogleich auf<lb/>
die&#x017F;es Gebiet und errichten daru&#x0364;ber ein Statut.</p><lb/>
        <p>Auf Pfing&#x017F;ten ward ein&#x017F;t ein großer jugend¬<lb/>
licher Feldzug verabredet; &#x017F;a&#x0364;mmtliche kleine Mann¬<lb/>
&#x017F;chaft, einige Hundert an der Zahl, &#x017F;ollte mit<lb/>
klingendem Spiel ausru&#x0364;cken und, u&#x0364;ber Berg und<lb/>
Thal mar&#x017F;chirend, die bewaffnete Jugend einer<lb/>
benachbarten Stadt be&#x017F;uchen, um mit der&#x017F;elben<lb/>
gemein&#x017F;chaftliche Paraden und Uebungen abzu¬<lb/>
halten. Es herr&#x017F;chte eine allgemeine Aufregung,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I</hi>. 20<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0319] hatte ſie keine Ahnung von dem unheilvollen Giftkraute, welches falſche Scham genannt wird und in den fruͤheſten Tagen des maͤnnlichen Le¬ bens um ſo mehr zu wuchern beginnt, als es von der Inſolenz der alten Menſchen eher gehaͤt¬ ſchelt und gepflegt, als unterſchieden und ausge¬ reutet wird. Unter tauſend Jugendfreunden und Mitgliedern von Peſtalozzi-Stiftungen giebt es vielleicht keine zwoͤlf, welche aus ihren eigenen Erinnerungen ſich noch auf das ABC des kind¬ lichen Gemuͤthes beſinnen und wiſſen, wie ſich daraus die verhaͤngnißvollen Worte bilden, und man darf ſie eigentlich nicht einmal darauf auf¬ merkſam machen, ſonſt werfen ſie ſich ſogleich auf dieſes Gebiet und errichten daruͤber ein Statut. Auf Pfingſten ward einſt ein großer jugend¬ licher Feldzug verabredet; ſaͤmmtliche kleine Mann¬ ſchaft, einige Hundert an der Zahl, ſollte mit klingendem Spiel ausruͤcken und, uͤber Berg und Thal marſchirend, die bewaffnete Jugend einer benachbarten Stadt beſuchen, um mit derſelben gemeinſchaftliche Paraden und Uebungen abzu¬ halten. Es herrſchte eine allgemeine Aufregung, I. 20

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/319
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/319>, abgerufen am 25.11.2024.