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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Sünden übersehen wurden: und alsdann ließ ich
es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem
Stegreife fehlen, welche um so vergnüglicher wa¬
ren, als mir der Sinn für die Verdientheit der
Strafe so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte
Fehler beging. So bestand der Stoff meiner
Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung;
das eine Mal bat ich um die gelungene Probe
eines schwierigen Rechnenexempels oder daß der
Vorgesetzte für einen Tintenklex in meinem Hefte
mit Blindheit geschlagen werde, das andere Mal,
ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne,
wenn ich mich zu verspäten drohte, oder auch
um Erlangung eines fremden reizenden Back¬
werkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße
Wolke nannte, einst für lange Zeit verreiste und
eines Abends bei uns Abschied nahm, während
ich schon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles
hörte, bat ich meinen himmlischen Vater in sehn¬
lichen Ausdrücken, er möchte bewirken, daß sie
mich hinter meinen Vorhängen nicht vergesse und
noch einmal tüchtig küsse. Ich schlief über der
steten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes

Suͤnden uͤberſehen wurden: und alsdann ließ ich
es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem
Stegreife fehlen, welche um ſo vergnuͤglicher wa¬
ren, als mir der Sinn fuͤr die Verdientheit der
Strafe ſo lange verſchloſſen blieb, bis ich bewußte
Fehler beging. So beſtand der Stoff meiner
Anrufungen aus der wunderlichſten Miſchung;
das eine Mal bat ich um die gelungene Probe
eines ſchwierigen Rechnenexempels oder daß der
Vorgeſetzte fuͤr einen Tintenklex in meinem Hefte
mit Blindheit geſchlagen werde, das andere Mal,
ein zweiter Joſua, um Stillſtand der Sonne,
wenn ich mich zu verſpaͤten drohte, oder auch
um Erlangung eines fremden reizenden Back¬
werkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße
Wolke nannte, einſt fuͤr lange Zeit verreiſte und
eines Abends bei uns Abſchied nahm, waͤhrend
ich ſchon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles
hoͤrte, bat ich meinen himmliſchen Vater in ſehn¬
lichen Ausdruͤcken, er moͤchte bewirken, daß ſie
mich hinter meinen Vorhaͤngen nicht vergeſſe und
noch einmal tuͤchtig kuͤſſe. Ich ſchlief uͤber der
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[144/0158] Suͤnden uͤberſehen wurden: und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen, welche um ſo vergnuͤglicher wa¬ ren, als mir der Sinn fuͤr die Verdientheit der Strafe ſo lange verſchloſſen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So beſtand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichſten Miſchung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines ſchwierigen Rechnenexempels oder daß der Vorgeſetzte fuͤr einen Tintenklex in meinem Hefte mit Blindheit geſchlagen werde, das andere Mal, ein zweiter Joſua, um Stillſtand der Sonne, wenn ich mich zu verſpaͤten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden reizenden Back¬ werkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße Wolke nannte, einſt fuͤr lange Zeit verreiſte und eines Abends bei uns Abſchied nahm, waͤhrend ich ſchon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles hoͤrte, bat ich meinen himmliſchen Vater in ſehn¬ lichen Ausdruͤcken, er moͤchte bewirken, daß ſie mich hinter meinen Vorhaͤngen nicht vergeſſe und noch einmal tuͤchtig kuͤſſe. Ich ſchlief uͤber der ſteten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/158>, abgerufen am 23.11.2024.