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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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mit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine
mächtige Steinlast herumwälzen zu helfen, hob,
wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei
kamen, selbst einen Balken auf die Schultern und
trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und statt
dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend
einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war
in später Nacht ganz umgewandelt auf den Bret¬
tern, leidenschaftlich erregt, mit hohen Idealen in
einem mühsamen Ringen begriffen, welches ihn
noch weit mehr anstrengen mußte, als die Tages¬
arbeit. Das Ende war, daß er plötzlich dahin
starb, als ein junger, blühender Mann, in einem
Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erst beginnen,
mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und
ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen, welcher er
mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte.
Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde
allein zurück und dies Kind bin ich.

Der Mensch rechnet immer das, was ihm
fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an, als das,
was er wirklich besitzt; so haben mich auch die
langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit

mit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine
maͤchtige Steinlaſt herumwaͤlzen zu helfen, hob,
wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei
kamen, ſelbſt einen Balken auf die Schultern und
trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und ſtatt
dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend
einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war
in ſpaͤter Nacht ganz umgewandelt auf den Bret¬
tern, leidenſchaftlich erregt, mit hohen Idealen in
einem muͤhſamen Ringen begriffen, welches ihn
noch weit mehr anſtrengen mußte, als die Tages¬
arbeit. Das Ende war, daß er ploͤtzlich dahin
ſtarb, als ein junger, bluͤhender Mann, in einem
Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erſt beginnen,
mitten in ſeinen Entwuͤrfen und Hoffnungen und
ohne die neue Zeit aufgehen zu ſehen, welcher er
mit ſeinen Freunden zuverſichtlich entgegenblickte.
Er ließ ſeine Frau mit einem fuͤnfjaͤhrigen Kinde
allein zuruͤck und dies Kind bin ich.

Der Menſch rechnet immer das, was ihm
fehlt, dem Schickſale doppelt ſo hoch an, als das,
was er wirklich beſitzt; ſo haben mich auch die
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[119/0133] mit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine maͤchtige Steinlaſt herumwaͤlzen zu helfen, hob, wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei kamen, ſelbſt einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und ſtatt dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in ſpaͤter Nacht ganz umgewandelt auf den Bret¬ tern, leidenſchaftlich erregt, mit hohen Idealen in einem muͤhſamen Ringen begriffen, welches ihn noch weit mehr anſtrengen mußte, als die Tages¬ arbeit. Das Ende war, daß er ploͤtzlich dahin ſtarb, als ein junger, bluͤhender Mann, in einem Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erſt beginnen, mitten in ſeinen Entwuͤrfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu ſehen, welcher er mit ſeinen Freunden zuverſichtlich entgegenblickte. Er ließ ſeine Frau mit einem fuͤnfjaͤhrigen Kinde allein zuruͤck und dies Kind bin ich. Der Menſch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schickſale doppelt ſo hoch an, als das, was er wirklich beſitzt; ſo haben mich auch die langen Erzaͤhlungen der Mutter immer mehr mit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/133>, abgerufen am 25.11.2024.