Das Dorf zählt etwa zweitausend Bewohner, von welchen je etwa dreihundert den gleichen Namen führen; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, weil die Familienerinnerungen selten bis zum Urgro߬ vater hinaufsteigen. Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, rühren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu ver¬ schwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam überzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zwei und dreißig Ahnen besitzen müs¬ sen und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren, sind sie vielmehr bemüht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Gro߬ vater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt Jeder selbst zu besitzen, wenigstens dieje¬
Das Dorf zaͤhlt etwa zweitauſend Bewohner, von welchen je etwa dreihundert den gleichen Namen fuͤhren; aber hoͤchſtens zwanzig bis dreißig von dieſen pflegen ſich Vetter zu nennen, weil die Familienerinnerungen ſelten bis zum Urgro߬ vater hinaufſteigen. Aus der unergruͤndlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht geſtiegen, ſonnen ſich dieſe Menſchen darin, ſo gut es gehen will, ruͤhren ſich und wehren ſich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu ver¬ ſchwinden, wenn ihre Zeit gekommen iſt. Wenn ſie ihre Naſen in die Hand nehmen, ſo ſind ſie ſattſam uͤberzeugt, daß ſie eine ununterbrochene Reihe von zwei und dreißig Ahnen beſitzen muͤſ¬ ſen und anſtatt dem natuͤrlichen Zuſammenhange derſelben nachzuſpuͤren, ſind ſie vielmehr bemuͤht, die Kette ihrerſeits nicht ausgehen zu laſſen. So kommt es, daß ſie alle moͤglichen Sagen und wunderlichen Geſchichten ihrer Gegend mit der groͤßten Genauigkeit erzaͤhlen koͤnnen, ohne zu wiſſen, wie es zugegangen iſt, daß der Gro߬ vater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt Jeder ſelbſt zu beſitzen, wenigſtens dieje¬
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Das Dorf zaͤhlt etwa zweitauſend Bewohner,
von welchen je etwa dreihundert den gleichen
Namen fuͤhren; aber hoͤchſtens zwanzig bis dreißig
von dieſen pflegen ſich Vetter zu nennen, weil
die Familienerinnerungen ſelten bis zum Urgro߬
vater hinaufſteigen. Aus der unergruͤndlichen
Tiefe der Zeiten an das Tageslicht geſtiegen,
ſonnen ſich dieſe Menſchen darin, ſo gut es gehen
will, ruͤhren ſich und wehren ſich ihrer Haut, um
wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu ver¬
ſchwinden, wenn ihre Zeit gekommen iſt. Wenn
ſie ihre Naſen in die Hand nehmen, ſo ſind ſie
ſattſam uͤberzeugt, daß ſie eine ununterbrochene
Reihe von zwei und dreißig Ahnen beſitzen muͤſ¬
ſen und anſtatt dem natuͤrlichen Zuſammenhange
derſelben nachzuſpuͤren, ſind ſie vielmehr bemuͤht,
die Kette ihrerſeits nicht ausgehen zu laſſen. So
kommt es, daß ſie alle moͤglichen Sagen und
wunderlichen Geſchichten ihrer Gegend mit der
groͤßten Genauigkeit erzaͤhlen koͤnnen, ohne zu
wiſſen, wie es zugegangen iſt, daß der Gro߬
vater die Großmutter nahm. Alle Tugenden
glaubt Jeder ſelbſt zu beſitzen, wenigſtens dieje¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/107>, abgerufen am 22.11.2024.
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