Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine Jugendgeschichte.

Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem
uralten Dorfe, welches seinen Namen von einer
seit vielen Jahrhunderten verschollenen Familie
hat. Niemand weiß mehr, wo einst das Schloß
gestanden, von dem man in den Chroniken noch
schwache Spuren findet; eben so wenig weiß man,
wann der letzte "Edle" dieses Namens gestorben
ist; aber das Dorf steht noch da, seelenreich und
belebter als je, während das halbe Dutzend Fa¬
miliennamen unverändert geblieben ist und für
die zahlreichen, weitläufigen Geschlechter fort und
fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker,
welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer
schneeweiß geputzte Kirche schmiegt und niemals
erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buch¬
stäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorüber¬

Eine Jugendgeſchichte.

Mein Vater war ein Bauernſohn aus einem
uralten Dorfe, welches ſeinen Namen von einer
ſeit vielen Jahrhunderten verſchollenen Familie
hat. Niemand weiß mehr, wo einſt das Schloß
geſtanden, von dem man in den Chroniken noch
ſchwache Spuren findet; eben ſo wenig weiß man,
wann der letzte »Edle« dieſes Namens geſtorben
iſt; aber das Dorf ſteht noch da, ſeelenreich und
belebter als je, waͤhrend das halbe Dutzend Fa¬
miliennamen unveraͤndert geblieben iſt und fuͤr
die zahlreichen, weitlaͤufigen Geſchlechter fort und
fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker,
welcher ſich rings an die trotz ihres Alters immer
ſchneeweiß geputzte Kirche ſchmiegt und niemals
erweitert worden iſt, beſteht in ſeiner Erde buch¬
ſtaͤblich aus den aufgeloͤſten Gebeinen der voruͤber¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0105"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b #g">Eine Jugendge&#x017F;chichte.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Mein Vater war ein Bauern&#x017F;ohn aus einem<lb/>
uralten Dorfe, welches &#x017F;einen Namen von einer<lb/>
&#x017F;eit vielen Jahrhunderten ver&#x017F;chollenen Familie<lb/>
hat. Niemand weiß mehr, wo ein&#x017F;t das Schloß<lb/>
ge&#x017F;tanden, von dem man in den Chroniken noch<lb/>
&#x017F;chwache Spuren findet; eben &#x017F;o wenig weiß man,<lb/>
wann der letzte »Edle« die&#x017F;es Namens ge&#x017F;torben<lb/>
i&#x017F;t; aber das Dorf &#x017F;teht noch da, &#x017F;eelenreich und<lb/>
belebter als je, wa&#x0364;hrend das halbe Dutzend Fa¬<lb/>
miliennamen unvera&#x0364;ndert geblieben i&#x017F;t und fu&#x0364;r<lb/>
die zahlreichen, weitla&#x0364;ufigen Ge&#x017F;chlechter fort und<lb/>
fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker,<lb/>
welcher &#x017F;ich rings an die trotz ihres Alters immer<lb/>
&#x017F;chneeweiß geputzte Kirche &#x017F;chmiegt und niemals<lb/>
erweitert worden i&#x017F;t, be&#x017F;teht in &#x017F;einer Erde buch¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;blich aus den aufgelo&#x0364;&#x017F;ten Gebeinen der voru&#x0364;ber¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] Eine Jugendgeſchichte. Mein Vater war ein Bauernſohn aus einem uralten Dorfe, welches ſeinen Namen von einer ſeit vielen Jahrhunderten verſchollenen Familie hat. Niemand weiß mehr, wo einſt das Schloß geſtanden, von dem man in den Chroniken noch ſchwache Spuren findet; eben ſo wenig weiß man, wann der letzte »Edle« dieſes Namens geſtorben iſt; aber das Dorf ſteht noch da, ſeelenreich und belebter als je, waͤhrend das halbe Dutzend Fa¬ miliennamen unveraͤndert geblieben iſt und fuͤr die zahlreichen, weitlaͤufigen Geſchlechter fort und fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker, welcher ſich rings an die trotz ihres Alters immer ſchneeweiß geputzte Kirche ſchmiegt und niemals erweitert worden iſt, beſteht in ſeiner Erde buch¬ ſtaͤblich aus den aufgeloͤſten Gebeinen der voruͤber¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/105
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/105>, abgerufen am 23.11.2024.