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Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907.

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Jn zwei Abschnitte zerfällt der zweite Teil des Programms, in einen staats-
bürgerlichen und in einen sozialpolitischen. Wir wenden uns zuvörderst den
Forderungen zu, die der erstere enthält, und werden eine nach der anderen
erläutern.

Erster Abschnitt.
I.
Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer
Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne
Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen.

Während die öffentlichen Lasten und Pflichten jeden treffen, ja gerade die
arbeitende Klasse überall da am schärfsten herangezogen wird, wo es sich um
Beiträge und Dienste für die Gemeinschaft handelt, ist das Wahlrecht in Deutsch-
land, abgesehen von dem Reichstagswahlrecht, durchgängig auf den Besitz ge-
gründet. Jn Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde ist es in der Regel an einen
Steuerfuß geknüpft. Mannigfach sind die Wahleinrichtungen, aber stets ist
dafür gesorgt, daß die Besitzlosen, die kleinen Leute entweder vollständig von der
Wahl ausgeschlossen sind oder einen so verschwindend kleinen Anteil daran haben,
daß sie stets in der Minderheit sind. Ohne Kontrolle, ohne Rücksicht übt in
diesen Klassenvertretungen die Bourgeoisie die Herrschaft aus. Die große Masse
verharrt im Zustande politischer Rechtlosigkeit und muß es sich gefallen lassen,
daß über ihr Geschick, über ihr Dasein, über Steuern und Abgaben, über öffent-
liche Einrichtungen von den Besitzenden nach deren Belieben verfügt und be-
schlossen wird. Der Grundsatz, welcher im Reichstagswahlrecht zum Ausdruck
kommt, daß die Angehörigen des Gemeinwesens, die mit Leib und Leben, mit
Gut und Blut für dieses einstehen müssen, auch bei der Ordnung der öffentlichen
Angelegenheiten mitzuraten und mitzutaten haben, muß bei allen Wahlen und
Abstimmungen zur Geltung kommen. Denn was für jenes gilt, gilt auch für die
übrigen. Wenn in den Einzelstaaten, in den Gemeinden usw. die rückständige
Einrichtung noch mit Eifer verteidigt und festgehalten wird, so tritt dabei die
unverhüllte Klassenselbstsucht zutage. Die Heuchelei, welche vor der Einführung
des Reichstagswahlrechts sich breit machte und unter den nichtigsten Vorwänden
für die "Bildung", d. h. den Geldsack das Wahlrecht forderte, versagt heute.

Die Altersgrenze für das Wahl- und Stimmrecht auf 25 Jahre, wie im
jetzigen Reichstagswahlrecht, festzusetzen, liegt kein stichhaltiger Grund vor. Alle
über 20 Jahre alten Reichsangehörigen sollen nach unserer Forderung in den
Genuß dieses Rechtes treten. Wer mit dem zwanzigsten Lebensjahre der
Militärpflicht, d. h. der Pflicht, sich zur Aushebung zu stellen, genügt, und dem
Gemeinwesen in diesem Alter die Blutsteuer zu entrichten pflegt, wer mit dem
einundzwanzigsten Lebensjahre die Großjährigkeit, die bürgerliche Verfügungs-
freiheit erlangt, der ist auch zur politischen Mündigkeit, zum Wahl- und Stimm-
recht herangereift. Dazu tritt aber ein anderer, ein ausschlaggebender Gesichts-
punkt. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Mündigkeit für die große Mehrzahl der
Reichsangehörigen, welche auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist, schon vor dem
zwanzigsten, sicher aber bis zum zwanzigsten Lebensjahre eingetreten. Schon im
Kindesalter wird der Proletarier nur zu oft in das Joch der Arbeit gespannt:
im jugendlichen Alter gehört er ihr bestimmt, der Zwang zum Broterwerb ist
unweigerlich vorhanden. Beginnt die Selbständigkeit der Arbeiter so frühe,
werden sie als selbsttätig Erwerbende schon zu Steuern usw. herangezogen, wenn
die Sprößlinge der Reichen noch auf der Schulbank sitzen, steht es fest, daß durch-
gängig die berufliche Ausbildung vor dem zwanzigsten Jahre erlangt wird, so
ist die Altersgrenze, wie wir sie festsetzen, in jedem Betracht gerechtfertigt.

Jn zwei Abschnitte zerfällt der zweite Teil des Programms, in einen staats-
bürgerlichen und in einen sozialpolitischen. Wir wenden uns zuvörderst den
Forderungen zu, die der erstere enthält, und werden eine nach der anderen
erläutern.

Erster Abschnitt.
I.
Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer
Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne
Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen.

Während die öffentlichen Lasten und Pflichten jeden treffen, ja gerade die
arbeitende Klasse überall da am schärfsten herangezogen wird, wo es sich um
Beiträge und Dienste für die Gemeinschaft handelt, ist das Wahlrecht in Deutsch-
land, abgesehen von dem Reichstagswahlrecht, durchgängig auf den Besitz ge-
gründet. Jn Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde ist es in der Regel an einen
Steuerfuß geknüpft. Mannigfach sind die Wahleinrichtungen, aber stets ist
dafür gesorgt, daß die Besitzlosen, die kleinen Leute entweder vollständig von der
Wahl ausgeschlossen sind oder einen so verschwindend kleinen Anteil daran haben,
daß sie stets in der Minderheit sind. Ohne Kontrolle, ohne Rücksicht übt in
diesen Klassenvertretungen die Bourgeoisie die Herrschaft aus. Die große Masse
verharrt im Zustande politischer Rechtlosigkeit und muß es sich gefallen lassen,
daß über ihr Geschick, über ihr Dasein, über Steuern und Abgaben, über öffent-
liche Einrichtungen von den Besitzenden nach deren Belieben verfügt und be-
schlossen wird. Der Grundsatz, welcher im Reichstagswahlrecht zum Ausdruck
kommt, daß die Angehörigen des Gemeinwesens, die mit Leib und Leben, mit
Gut und Blut für dieses einstehen müssen, auch bei der Ordnung der öffentlichen
Angelegenheiten mitzuraten und mitzutaten haben, muß bei allen Wahlen und
Abstimmungen zur Geltung kommen. Denn was für jenes gilt, gilt auch für die
übrigen. Wenn in den Einzelstaaten, in den Gemeinden usw. die rückständige
Einrichtung noch mit Eifer verteidigt und festgehalten wird, so tritt dabei die
unverhüllte Klassenselbstsucht zutage. Die Heuchelei, welche vor der Einführung
des Reichstagswahlrechts sich breit machte und unter den nichtigsten Vorwänden
für die „Bildung“, d. h. den Geldsack das Wahlrecht forderte, versagt heute.

Die Altersgrenze für das Wahl- und Stimmrecht auf 25 Jahre, wie im
jetzigen Reichstagswahlrecht, festzusetzen, liegt kein stichhaltiger Grund vor. Alle
über 20 Jahre alten Reichsangehörigen sollen nach unserer Forderung in den
Genuß dieses Rechtes treten. Wer mit dem zwanzigsten Lebensjahre der
Militärpflicht, d. h. der Pflicht, sich zur Aushebung zu stellen, genügt, und dem
Gemeinwesen in diesem Alter die Blutsteuer zu entrichten pflegt, wer mit dem
einundzwanzigsten Lebensjahre die Großjährigkeit, die bürgerliche Verfügungs-
freiheit erlangt, der ist auch zur politischen Mündigkeit, zum Wahl- und Stimm-
recht herangereift. Dazu tritt aber ein anderer, ein ausschlaggebender Gesichts-
punkt. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Mündigkeit für die große Mehrzahl der
Reichsangehörigen, welche auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist, schon vor dem
zwanzigsten, sicher aber bis zum zwanzigsten Lebensjahre eingetreten. Schon im
Kindesalter wird der Proletarier nur zu oft in das Joch der Arbeit gespannt:
im jugendlichen Alter gehört er ihr bestimmt, der Zwang zum Broterwerb ist
unweigerlich vorhanden. Beginnt die Selbständigkeit der Arbeiter so frühe,
werden sie als selbsttätig Erwerbende schon zu Steuern usw. herangezogen, wenn
die Sprößlinge der Reichen noch auf der Schulbank sitzen, steht es fest, daß durch-
gängig die berufliche Ausbildung vor dem zwanzigsten Jahre erlangt wird, so
ist die Altersgrenze, wie wir sie festsetzen, in jedem Betracht gerechtfertigt.

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[29/0031] Jn zwei Abschnitte zerfällt der zweite Teil des Programms, in einen staats- bürgerlichen und in einen sozialpolitischen. Wir wenden uns zuvörderst den Forderungen zu, die der erstere enthält, und werden eine nach der anderen erläutern. Erster Abschnitt. I. Allgemeines gleiches direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Während die öffentlichen Lasten und Pflichten jeden treffen, ja gerade die arbeitende Klasse überall da am schärfsten herangezogen wird, wo es sich um Beiträge und Dienste für die Gemeinschaft handelt, ist das Wahlrecht in Deutsch- land, abgesehen von dem Reichstagswahlrecht, durchgängig auf den Besitz ge- gründet. Jn Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde ist es in der Regel an einen Steuerfuß geknüpft. Mannigfach sind die Wahleinrichtungen, aber stets ist dafür gesorgt, daß die Besitzlosen, die kleinen Leute entweder vollständig von der Wahl ausgeschlossen sind oder einen so verschwindend kleinen Anteil daran haben, daß sie stets in der Minderheit sind. Ohne Kontrolle, ohne Rücksicht übt in diesen Klassenvertretungen die Bourgeoisie die Herrschaft aus. Die große Masse verharrt im Zustande politischer Rechtlosigkeit und muß es sich gefallen lassen, daß über ihr Geschick, über ihr Dasein, über Steuern und Abgaben, über öffent- liche Einrichtungen von den Besitzenden nach deren Belieben verfügt und be- schlossen wird. Der Grundsatz, welcher im Reichstagswahlrecht zum Ausdruck kommt, daß die Angehörigen des Gemeinwesens, die mit Leib und Leben, mit Gut und Blut für dieses einstehen müssen, auch bei der Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten mitzuraten und mitzutaten haben, muß bei allen Wahlen und Abstimmungen zur Geltung kommen. Denn was für jenes gilt, gilt auch für die übrigen. Wenn in den Einzelstaaten, in den Gemeinden usw. die rückständige Einrichtung noch mit Eifer verteidigt und festgehalten wird, so tritt dabei die unverhüllte Klassenselbstsucht zutage. Die Heuchelei, welche vor der Einführung des Reichstagswahlrechts sich breit machte und unter den nichtigsten Vorwänden für die „Bildung“, d. h. den Geldsack das Wahlrecht forderte, versagt heute. Die Altersgrenze für das Wahl- und Stimmrecht auf 25 Jahre, wie im jetzigen Reichstagswahlrecht, festzusetzen, liegt kein stichhaltiger Grund vor. Alle über 20 Jahre alten Reichsangehörigen sollen nach unserer Forderung in den Genuß dieses Rechtes treten. Wer mit dem zwanzigsten Lebensjahre der Militärpflicht, d. h. der Pflicht, sich zur Aushebung zu stellen, genügt, und dem Gemeinwesen in diesem Alter die Blutsteuer zu entrichten pflegt, wer mit dem einundzwanzigsten Lebensjahre die Großjährigkeit, die bürgerliche Verfügungs- freiheit erlangt, der ist auch zur politischen Mündigkeit, zum Wahl- und Stimm- recht herangereift. Dazu tritt aber ein anderer, ein ausschlaggebender Gesichts- punkt. Tatsächlich ist die wirtschaftliche Mündigkeit für die große Mehrzahl der Reichsangehörigen, welche auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist, schon vor dem zwanzigsten, sicher aber bis zum zwanzigsten Lebensjahre eingetreten. Schon im Kindesalter wird der Proletarier nur zu oft in das Joch der Arbeit gespannt: im jugendlichen Alter gehört er ihr bestimmt, der Zwang zum Broterwerb ist unweigerlich vorhanden. Beginnt die Selbständigkeit der Arbeiter so frühe, werden sie als selbsttätig Erwerbende schon zu Steuern usw. herangezogen, wenn die Sprößlinge der Reichen noch auf der Schulbank sitzen, steht es fest, daß durch- gängig die berufliche Ausbildung vor dem zwanzigsten Jahre erlangt wird, so ist die Altersgrenze, wie wir sie festsetzen, in jedem Betracht gerechtfertigt.

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Zitationshilfe: Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kautsky_grundsaetze_1907/31>, abgerufen am 27.11.2024.