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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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liebsten bey Bildern verweilte, die ihm ausserordentlich
und unerreichbar schienen; denn gewöhnliche Gegen-
stände hatten schon früh zu wenig Nahrung für sein
gewaltiges Feuer. Dieses kanonisirte Heldengedicht
hatte sogar Würkungen auf ihre Einbildungskraft; sie
vertraute sich ganz mit demselben, und wollte kein
Mädchen mehr seyn. Man hatte ihr zum Jahrmarkt
eine Puppe gekauft, diese warf sie in den Wipfel eines
Birnbaums, und mit ihr jede Neigung zu kindischen
Spielen. Wenn sie nicht las, oder lernte, so ging sie
in den Garten, nahm ein Haselstrauchstäbchen, und
zog damit auf die Nesseln, wie auf eine Legion Feinde
los. Ganzen Feldern voll hieb sie die Köpfe ab, und
durch diesen täglichen kriegerischen Zeitvertreib waren
die Nesseln ausgerottet, ehe noch der Sommer ver-
ging. Mit den Uebergängen der Jahrszeit veränderte
sie auch ihre kriegerischen Dispositionen. Statt der
Nesseln wurden nun Armeen von Erbsen und Bohnen
auf den Tisch gestellt, welche auf einander losgehn
mußten. Oder draußen im Freyen wurden kleine Kie-
sel gesammlet, in Reihe und Glieder gestellt, und mit
größeren Steinen darauf losgefeuert.

Ihre Großmutter, welche schlechterdings keine
Psychologin war, schüttelte zu solchen Zeitvertreiben
murrend den Kopf, und schalt über das viele Lesen
ihrer Enkelin. Als sie aber sah, daß sie sogar schreiben

b

liebſten bey Bildern verweilte, die ihm auſſerordentlich
und unerreichbar ſchienen; denn gewoͤhnliche Gegen-
ſtaͤnde hatten ſchon fruͤh zu wenig Nahrung fuͤr ſein
gewaltiges Feuer. Dieſes kanoniſirte Heldengedicht
hatte ſogar Wuͤrkungen auf ihre Einbildungskraft; ſie
vertraute ſich ganz mit demſelben, und wollte kein
Maͤdchen mehr ſeyn. Man hatte ihr zum Jahrmarkt
eine Puppe gekauft, dieſe warf ſie in den Wipfel eines
Birnbaums, und mit ihr jede Neigung zu kindiſchen
Spielen. Wenn ſie nicht las, oder lernte, ſo ging ſie
in den Garten, nahm ein Haſelſtrauchſtaͤbchen, und
zog damit auf die Neſſeln, wie auf eine Legion Feinde
los. Ganzen Feldern voll hieb ſie die Koͤpfe ab, und
durch dieſen taͤglichen kriegeriſchen Zeitvertreib waren
die Neſſeln ausgerottet, ehe noch der Sommer ver-
ging. Mit den Uebergaͤngen der Jahrszeit veraͤnderte
ſie auch ihre kriegeriſchen Diſpoſitionen. Statt der
Neſſeln wurden nun Armeen von Erbſen und Bohnen
auf den Tiſch geſtellt, welche auf einander losgehn
mußten. Oder draußen im Freyen wurden kleine Kie-
ſel geſammlet, in Reihe und Glieder geſtellt, und mit
groͤßeren Steinen darauf losgefeuert.

Ihre Großmutter, welche ſchlechterdings keine
Pſychologin war, ſchuͤttelte zu ſolchen Zeitvertreiben
murrend den Kopf, und ſchalt uͤber das viele Leſen
ihrer Enkelin. Als ſie aber ſah, daß ſie ſogar ſchreiben

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[17/0049] liebſten bey Bildern verweilte, die ihm auſſerordentlich und unerreichbar ſchienen; denn gewoͤhnliche Gegen- ſtaͤnde hatten ſchon fruͤh zu wenig Nahrung fuͤr ſein gewaltiges Feuer. Dieſes kanoniſirte Heldengedicht hatte ſogar Wuͤrkungen auf ihre Einbildungskraft; ſie vertraute ſich ganz mit demſelben, und wollte kein Maͤdchen mehr ſeyn. Man hatte ihr zum Jahrmarkt eine Puppe gekauft, dieſe warf ſie in den Wipfel eines Birnbaums, und mit ihr jede Neigung zu kindiſchen Spielen. Wenn ſie nicht las, oder lernte, ſo ging ſie in den Garten, nahm ein Haſelſtrauchſtaͤbchen, und zog damit auf die Neſſeln, wie auf eine Legion Feinde los. Ganzen Feldern voll hieb ſie die Koͤpfe ab, und durch dieſen taͤglichen kriegeriſchen Zeitvertreib waren die Neſſeln ausgerottet, ehe noch der Sommer ver- ging. Mit den Uebergaͤngen der Jahrszeit veraͤnderte ſie auch ihre kriegeriſchen Diſpoſitionen. Statt der Neſſeln wurden nun Armeen von Erbſen und Bohnen auf den Tiſch geſtellt, welche auf einander losgehn mußten. Oder draußen im Freyen wurden kleine Kie- ſel geſammlet, in Reihe und Glieder geſtellt, und mit groͤßeren Steinen darauf losgefeuert. Ihre Großmutter, welche ſchlechterdings keine Pſychologin war, ſchuͤttelte zu ſolchen Zeitvertreiben murrend den Kopf, und ſchalt uͤber das viele Leſen ihrer Enkelin. Als ſie aber ſah, daß ſie ſogar ſchreiben b

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/49>, abgerufen am 26.04.2024.