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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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ein mit Ausdruck vermischter Anstand. Ihre Bil-
dung war nicht regelmäßig schön, allein doch fein und
angenehm. Ihr Auge war blau und sprechend, ihre
Haut weiß, und das Haar glänzend schwarz.

Zu diesem äußern Ansehn fügte sie zwei Talente,
welche so vollkommen gewesen seyn sollen, daß sie ihr
sogar von der Dichterin auf eine gutmüthige Weise
beneidet wurden. Es waren diese: die Kunst zu tan-
zen und die Gabe der allervortrefflichsten Singstimme.
Wer diese wunderbare Frau in ihrem fünf und sech-
zigsten Jahre hat tanzen gesehn, der ist noch bezaubert
von ihr. Sie hat, wie der Vogel über dem Wasser,
gleichsam nur über dem Boden geschwebt, und mit
den sittsamsten Blicken und Anstande die leichtesten
Wendungen ausgeführt, welche sie mehrentheils selbst
angab, weil die gewöhnlichen Tänze ihr zu unbedeu-
tend waren. Wenn es bekannt wurde, daß sie zu
einem Tauf- oder Hochzeitsschmause erscheinen würde,
so ströhmten auch die Zuschauer des ganzen Städtchens
dem Festhause zu, und stunden hoch übereinander in
den Fenstern, um sie nur tanzen zu sehen. Dennoch,
so weit die Seele die Reize des Körpers übertrifft, so
weit übertraf ihre Singstimme ihre Kunst zu tanzen.
Nur mit Thränen in den Augen wird von ihren Kin-
dern diese Stimme gerühmt; ja, sie können keine
Worte finden, um ihr eine Abschilderung zu geben.

ein mit Ausdruck vermiſchter Anſtand. Ihre Bil-
dung war nicht regelmaͤßig ſchoͤn, allein doch fein und
angenehm. Ihr Auge war blau und ſprechend, ihre
Haut weiß, und das Haar glaͤnzend ſchwarz.

Zu dieſem aͤußern Anſehn fuͤgte ſie zwei Talente,
welche ſo vollkommen geweſen ſeyn ſollen, daß ſie ihr
ſogar von der Dichterin auf eine gutmuͤthige Weiſe
beneidet wurden. Es waren dieſe: die Kunſt zu tan-
zen und die Gabe der allervortrefflichſten Singſtimme.
Wer dieſe wunderbare Frau in ihrem fuͤnf und ſech-
zigſten Jahre hat tanzen geſehn, der iſt noch bezaubert
von ihr. Sie hat, wie der Vogel uͤber dem Waſſer,
gleichſam nur uͤber dem Boden geſchwebt, und mit
den ſittſamſten Blicken und Anſtande die leichteſten
Wendungen ausgefuͤhrt, welche ſie mehrentheils ſelbſt
angab, weil die gewoͤhnlichen Taͤnze ihr zu unbedeu-
tend waren. Wenn es bekannt wurde, daß ſie zu
einem Tauf- oder Hochzeitsſchmauſe erſcheinen wuͤrde,
ſo ſtroͤhmten auch die Zuſchauer des ganzen Staͤdtchens
dem Feſthauſe zu, und ſtunden hoch uͤbereinander in
den Fenſtern, um ſie nur tanzen zu ſehen. Dennoch,
ſo weit die Seele die Reize des Koͤrpers uͤbertrifft, ſo
weit uͤbertraf ihre Singſtimme ihre Kunſt zu tanzen.
Nur mit Thraͤnen in den Augen wird von ihren Kin-
dern dieſe Stimme geruͤhmt; ja, ſie koͤnnen keine
Worte finden, um ihr eine Abſchilderung zu geben.

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[6/0038] ein mit Ausdruck vermiſchter Anſtand. Ihre Bil- dung war nicht regelmaͤßig ſchoͤn, allein doch fein und angenehm. Ihr Auge war blau und ſprechend, ihre Haut weiß, und das Haar glaͤnzend ſchwarz. Zu dieſem aͤußern Anſehn fuͤgte ſie zwei Talente, welche ſo vollkommen geweſen ſeyn ſollen, daß ſie ihr ſogar von der Dichterin auf eine gutmuͤthige Weiſe beneidet wurden. Es waren dieſe: die Kunſt zu tan- zen und die Gabe der allervortrefflichſten Singſtimme. Wer dieſe wunderbare Frau in ihrem fuͤnf und ſech- zigſten Jahre hat tanzen geſehn, der iſt noch bezaubert von ihr. Sie hat, wie der Vogel uͤber dem Waſſer, gleichſam nur uͤber dem Boden geſchwebt, und mit den ſittſamſten Blicken und Anſtande die leichteſten Wendungen ausgefuͤhrt, welche ſie mehrentheils ſelbſt angab, weil die gewoͤhnlichen Taͤnze ihr zu unbedeu- tend waren. Wenn es bekannt wurde, daß ſie zu einem Tauf- oder Hochzeitsſchmauſe erſcheinen wuͤrde, ſo ſtroͤhmten auch die Zuſchauer des ganzen Staͤdtchens dem Feſthauſe zu, und ſtunden hoch uͤbereinander in den Fenſtern, um ſie nur tanzen zu ſehen. Dennoch, ſo weit die Seele die Reize des Koͤrpers uͤbertrifft, ſo weit uͤbertraf ihre Singſtimme ihre Kunſt zu tanzen. Nur mit Thraͤnen in den Augen wird von ihren Kin- dern dieſe Stimme geruͤhmt; ja, ſie koͤnnen keine Worte finden, um ihr eine Abſchilderung zu geben.

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/38>, abgerufen am 21.11.2024.