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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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andere lassen, und ohne Gesellschaft hieß bei ihr ohne
Element leben. Sie würde diesen Zustand weit schwe-
rer ausgehalten haben, wenn sie nicht ihren Enkel,
Heinrich Wilhelm Hempel, um sich gehabt hätte,
welcher ihre letzte Liebe besaß, und ihr letzter Kummer
war. Er spielte ihr etwas auf dem Klaviere vor, in-
dem sie entweder im Plutarch, in der Römischen Ge-
schichte, oder im Julius Cäsar las, welche Lektüre
ihr nur der Tod aus der Hand nahm, so lieb hatte
sie dieselbe. Ihr Enkel entschloß sich endlich zum
Studiren (welche Last auf ihre Schultern sank), er
ging im März 1791 nach Frankfurt an der Oder als
Beflissner der Rechte. Sie verlohr durch seinen
Abschied die letzte Ruhe ihres Herzens; und seine
Abwesenheit war ihr unerträglich. Sie reisete ihm
zu Ende des Juni nach, ohnerachtet ihrer auszehren-
den Schwäche. Längst war sie nach Tirschtiegel, ihrer
Vaterstadt, zu kommen gebeten worden, daselbst hatte
der Pastor Senior Herr Sturzel, ihr aus Verlan-
gen sie zu sehn, sein Haus zur Aufnahme bereitet,
und selbst die Gemeine auf ihre Ankunft erwartend
gemacht. Auch der Dichterin einzige Schwester, die
verwittwete Frau Eleonore Borngräbern, geborne
Hempeln, sehnte sich, ihre geehrte Schwester ein-
mal bei sich zu sehn, ehe das Alter sie beide für die
Freude des Wiedersehns zu stumpf machte; sie hatte

andere laſſen, und ohne Geſellſchaft hieß bei ihr ohne
Element leben. Sie wuͤrde dieſen Zuſtand weit ſchwe-
rer ausgehalten haben, wenn ſie nicht ihren Enkel,
Heinrich Wilhelm Hempel, um ſich gehabt haͤtte,
welcher ihre letzte Liebe beſaß, und ihr letzter Kummer
war. Er ſpielte ihr etwas auf dem Klaviere vor, in-
dem ſie entweder im Plutarch, in der Roͤmiſchen Ge-
ſchichte, oder im Julius Caͤſar las, welche Lektuͤre
ihr nur der Tod aus der Hand nahm, ſo lieb hatte
ſie dieſelbe. Ihr Enkel entſchloß ſich endlich zum
Studiren (welche Laſt auf ihre Schultern ſank), er
ging im Maͤrz 1791 nach Frankfurt an der Oder als
Befliſſner der Rechte. Sie verlohr durch ſeinen
Abſchied die letzte Ruhe ihres Herzens; und ſeine
Abweſenheit war ihr unertraͤglich. Sie reiſete ihm
zu Ende des Juni nach, ohnerachtet ihrer auszehren-
den Schwaͤche. Laͤngſt war ſie nach Tirſchtiegel, ihrer
Vaterſtadt, zu kommen gebeten worden, daſelbſt hatte
der Paſtor Senior Herr Sturzel, ihr aus Verlan-
gen ſie zu ſehn, ſein Haus zur Aufnahme bereitet,
und ſelbſt die Gemeine auf ihre Ankunft erwartend
gemacht. Auch der Dichterin einzige Schweſter, die
verwittwete Frau Eleonore Borngraͤbern, geborne
Hempeln, ſehnte ſich, ihre geehrte Schweſter ein-
mal bei ſich zu ſehn, ehe das Alter ſie beide fuͤr die
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[122/0154] andere laſſen, und ohne Geſellſchaft hieß bei ihr ohne Element leben. Sie wuͤrde dieſen Zuſtand weit ſchwe- rer ausgehalten haben, wenn ſie nicht ihren Enkel, Heinrich Wilhelm Hempel, um ſich gehabt haͤtte, welcher ihre letzte Liebe beſaß, und ihr letzter Kummer war. Er ſpielte ihr etwas auf dem Klaviere vor, in- dem ſie entweder im Plutarch, in der Roͤmiſchen Ge- ſchichte, oder im Julius Caͤſar las, welche Lektuͤre ihr nur der Tod aus der Hand nahm, ſo lieb hatte ſie dieſelbe. Ihr Enkel entſchloß ſich endlich zum Studiren (welche Laſt auf ihre Schultern ſank), er ging im Maͤrz 1791 nach Frankfurt an der Oder als Befliſſner der Rechte. Sie verlohr durch ſeinen Abſchied die letzte Ruhe ihres Herzens; und ſeine Abweſenheit war ihr unertraͤglich. Sie reiſete ihm zu Ende des Juni nach, ohnerachtet ihrer auszehren- den Schwaͤche. Laͤngſt war ſie nach Tirſchtiegel, ihrer Vaterſtadt, zu kommen gebeten worden, daſelbſt hatte der Paſtor Senior Herr Sturzel, ihr aus Verlan- gen ſie zu ſehn, ſein Haus zur Aufnahme bereitet, und ſelbſt die Gemeine auf ihre Ankunft erwartend gemacht. Auch der Dichterin einzige Schweſter, die verwittwete Frau Eleonore Borngraͤbern, geborne Hempeln, ſehnte ſich, ihre geehrte Schweſter ein- mal bei ſich zu ſehn, ehe das Alter ſie beide fuͤr die Freude des Wiederſehns zu ſtumpf machte; ſie hatte

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/154>, abgerufen am 28.04.2024.