deburg zurückzukehren; allein ihr Schicksal hatte es anders beschlossen. Kaum war sie zwei Monat in Berlin, als sie zufälliger Weise erfuhr, daß ihr äl- tester Bruder, derjenige, welchen sie zuerst wiegen und warten mußte, und den sie so lieb gewonnen hat- te, gegenwärtig sei; dieses hören und ihn aufsuchen war Eins. Sie hatten einander in vierzehn Jahren nicht gesehn, und ihre Freude, ihn in ihrem Glück wieder zu finden, war ohne Gränzen. Jetzt em- pfand sie zum erstenmal, daß ihr Glück nicht ohne Stachel sei; denn, indem sie ihren Bruder betrach- tete, welcher, ob ihm gleich nichts mangelte, doch in seiner Sphäre tief unter ihr stand, seufzte sie, daß sie allein glücklich war, und daß es nicht in ihrer Macht stand, ihn sogleich mit glücklich zu machen. Um dennoch ihren feurigen Wunsch einigermaßen zu be- friedigen, zog sie von einer Freundin, bei welcher sie als Gast immer wohnte, weg, und ließ ihren Bruder ein Logis miethen, welches sie mit ihm bezog, um al- les, was das Glück ihr von nun an zuwerfen wür- de, mit ihm zu theilen. Wegen des endlich erfolgten Friedens waren die Häuser mit Einwohnern über- häuft, und es war in der Eil keine andere Wohnung zu bekommen, als die Dachstube eines großen Eckhau- ses, welches diejenige Wohnung war, von welcher die Dichterin dem großen König sagte, daß sie einer
deburg zuruͤckzukehren; allein ihr Schickſal hatte es anders beſchloſſen. Kaum war ſie zwei Monat in Berlin, als ſie zufaͤlliger Weiſe erfuhr, daß ihr aͤl- teſter Bruder, derjenige, welchen ſie zuerſt wiegen und warten mußte, und den ſie ſo lieb gewonnen hat- te, gegenwaͤrtig ſei; dieſes hoͤren und ihn aufſuchen war Eins. Sie hatten einander in vierzehn Jahren nicht geſehn, und ihre Freude, ihn in ihrem Gluͤck wieder zu finden, war ohne Graͤnzen. Jetzt em- pfand ſie zum erſtenmal, daß ihr Gluͤck nicht ohne Stachel ſei; denn, indem ſie ihren Bruder betrach- tete, welcher, ob ihm gleich nichts mangelte, doch in ſeiner Sphaͤre tief unter ihr ſtand, ſeufzte ſie, daß ſie allein gluͤcklich war, und daß es nicht in ihrer Macht ſtand, ihn ſogleich mit gluͤcklich zu machen. Um dennoch ihren feurigen Wunſch einigermaßen zu be- friedigen, zog ſie von einer Freundin, bei welcher ſie als Gaſt immer wohnte, weg, und ließ ihren Bruder ein Logis miethen, welches ſie mit ihm bezog, um al- les, was das Gluͤck ihr von nun an zuwerfen wuͤr- de, mit ihm zu theilen. Wegen des endlich erfolgten Friedens waren die Haͤuſer mit Einwohnern uͤber- haͤuft, und es war in der Eil keine andere Wohnung zu bekommen, als die Dachſtube eines großen Eckhau- ſes, welches diejenige Wohnung war, von welcher die Dichterin dem großen Koͤnig ſagte, daß ſie einer
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deburg zuruͤckzukehren; allein ihr Schickſal hatte es
anders beſchloſſen. Kaum war ſie zwei Monat in
Berlin, als ſie zufaͤlliger Weiſe erfuhr, daß ihr aͤl-
teſter Bruder, derjenige, welchen ſie zuerſt wiegen
und warten mußte, und den ſie ſo lieb gewonnen hat-
te, gegenwaͤrtig ſei; dieſes hoͤren und ihn aufſuchen
war Eins. Sie hatten einander in vierzehn Jahren
nicht geſehn, und ihre Freude, ihn in ihrem Gluͤck
wieder zu finden, war ohne Graͤnzen. Jetzt em-
pfand ſie zum erſtenmal, daß ihr Gluͤck nicht ohne
Stachel ſei; denn, indem ſie ihren Bruder betrach-
tete, welcher, ob ihm gleich nichts mangelte, doch in
ſeiner Sphaͤre tief unter ihr ſtand, ſeufzte ſie, daß ſie
allein gluͤcklich war, und daß es nicht in ihrer Macht
ſtand, ihn ſogleich mit gluͤcklich zu machen. Um
dennoch ihren feurigen Wunſch einigermaßen zu be-
friedigen, zog ſie von einer Freundin, bei welcher ſie
als Gaſt immer wohnte, weg, und ließ ihren Bruder
ein Logis miethen, welches ſie mit ihm bezog, um al-
les, was das Gluͤck ihr von nun an zuwerfen wuͤr-
de, mit ihm zu theilen. Wegen des endlich erfolgten
Friedens waren die Haͤuſer mit Einwohnern uͤber-
haͤuft, und es war in der Eil keine andere Wohnung
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ſes, welches diejenige Wohnung war, von welcher die
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/134>, abgerufen am 21.11.2024.
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