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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
etwas bedeutet, was unmittelbar gefällt. (Eben so ist
es auch mit dem, was ich schön nenne, bewandt.)

Selbst in den gemeinsten Reden unterscheidet man
das Angenehme vom Guten. Von einem durch Gewürze
und andern Zusätzen den Geschmack erhebenden Gerichte
sagt man ohne Bedenken, es sey angenehm, und gesteht
zugleich, daß es nicht gut sey, weil es zwar unmittelbar
den Sinnen behagt, mittelbar aber, d. i. durch die
Vernunft, die auf die Folgen hinaus sieht, betrachtet,
misfällt. Selbst in der Beurtheilung der Gesundheit
kann man noch diesen Unterschied bemerken. Sie ist je-
dem, der sie besitzt, unmittelbar angenehm (wenigstens
negativ, d. i. als Entfernung aller körperlichen Schmer-
zen). Aber, um zu sagen, daß sie gut sey, muß man
sie noch durch die Vernunft auf Zwecke richten, nehmlich
daß sie ein Zustand ist, der uns zu allen unsern Geschäf-
ten auferlegt macht. Aber von der Glückseligkeit, glaubt
endlich doch jedermann die größte Summe (der Menge
sowohl als Dauer nach) der Annehmlichkeiten des Le-
bens, ein wahres, ja sogar das höchste Gut nennen zu
können. Allein auch dawider sträubt sich die Vernunft.
Annehmlichkeit ist Genuß. Jst es aber auf diesen allein
angelegt, so wäre es thöricht, scrupulös in Ansehung
der Mittel zu seyn, die ihn uns verschaffen, ob er lei-
dend, von der Freygebigkeit der Natur, oder durch
Selbstthätigkeit und unser eigen Wirken erlangt wäre.
Daß aber eines Menschen Existenz einen Werth habe,

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
etwas bedeutet, was unmittelbar gefaͤllt. (Eben ſo iſt
es auch mit dem, was ich ſchoͤn nenne, bewandt.)

Selbſt in den gemeinſten Reden unterſcheidet man
das Angenehme vom Guten. Von einem durch Gewuͤrze
und andern Zuſaͤtzen den Geſchmack erhebenden Gerichte
ſagt man ohne Bedenken, es ſey angenehm, und geſteht
zugleich, daß es nicht gut ſey, weil es zwar unmittelbar
den Sinnen behagt, mittelbar aber, d. i. durch die
Vernunft, die auf die Folgen hinaus ſieht, betrachtet,
misfaͤllt. Selbſt in der Beurtheilung der Geſundheit
kann man noch dieſen Unterſchied bemerken. Sie iſt je-
dem, der ſie beſitzt, unmittelbar angenehm (wenigſtens
negativ, d. i. als Entfernung aller koͤrperlichen Schmer-
zen). Aber, um zu ſagen, daß ſie gut ſey, muß man
ſie noch durch die Vernunft auf Zwecke richten, nehmlich
daß ſie ein Zuſtand iſt, der uns zu allen unſern Geſchaͤf-
ten auferlegt macht. Aber von der Gluͤckſeligkeit, glaubt
endlich doch jedermann die groͤßte Summe (der Menge
ſowohl als Dauer nach) der Annehmlichkeiten des Le-
bens, ein wahres, ja ſogar das hoͤchſte Gut nennen zu
koͤnnen. Allein auch dawider ſtraͤubt ſich die Vernunft.
Annehmlichkeit iſt Genuß. Jſt es aber auf dieſen allein
angelegt, ſo waͤre es thoͤricht, ſcrupuloͤs in Anſehung
der Mittel zu ſeyn, die ihn uns verſchaffen, ob er lei-
dend, von der Freygebigkeit der Natur, oder durch
Selbſtthaͤtigkeit und unſer eigen Wirken erlangt waͤre.
Daß aber eines Menſchen Exiſtenz einen Werth habe,

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[12/0076] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. etwas bedeutet, was unmittelbar gefaͤllt. (Eben ſo iſt es auch mit dem, was ich ſchoͤn nenne, bewandt.) Selbſt in den gemeinſten Reden unterſcheidet man das Angenehme vom Guten. Von einem durch Gewuͤrze und andern Zuſaͤtzen den Geſchmack erhebenden Gerichte ſagt man ohne Bedenken, es ſey angenehm, und geſteht zugleich, daß es nicht gut ſey, weil es zwar unmittelbar den Sinnen behagt, mittelbar aber, d. i. durch die Vernunft, die auf die Folgen hinaus ſieht, betrachtet, misfaͤllt. Selbſt in der Beurtheilung der Geſundheit kann man noch dieſen Unterſchied bemerken. Sie iſt je- dem, der ſie beſitzt, unmittelbar angenehm (wenigſtens negativ, d. i. als Entfernung aller koͤrperlichen Schmer- zen). Aber, um zu ſagen, daß ſie gut ſey, muß man ſie noch durch die Vernunft auf Zwecke richten, nehmlich daß ſie ein Zuſtand iſt, der uns zu allen unſern Geſchaͤf- ten auferlegt macht. Aber von der Gluͤckſeligkeit, glaubt endlich doch jedermann die groͤßte Summe (der Menge ſowohl als Dauer nach) der Annehmlichkeiten des Le- bens, ein wahres, ja ſogar das hoͤchſte Gut nennen zu koͤnnen. Allein auch dawider ſtraͤubt ſich die Vernunft. Annehmlichkeit iſt Genuß. Jſt es aber auf dieſen allein angelegt, ſo waͤre es thoͤricht, ſcrupuloͤs in Anſehung der Mittel zu ſeyn, die ihn uns verſchaffen, ob er lei- dend, von der Freygebigkeit der Natur, oder durch Selbſtthaͤtigkeit und unſer eigen Wirken erlangt waͤre. Daß aber eines Menſchen Exiſtenz einen Werth habe,

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/76>, abgerufen am 28.11.2024.