Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
schied in den Dingen selbst liege. Denn daß dieses nicht dar-
aus gefolgert werden könne, mithin jene Sätze zwar aller-
dings auch von Objecten gelten, so fern unser Erkenntnisver-
mögen, als sinnlich-bedingt, sich auch mit Objecten der
Sinne beschäftigt, aber nicht von Dingen überhaupt, leuch-
tet aus der unnachlaslichen Forderung der Vernunft ein,
irgend ein Etwas (den Urgund) als unbedingt nothwendig
existirend anzunehmen, an welchem Möglichkeit und Wirk-
lichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen und für
welche Jdee unser Verstand schlechterdings keinen Begrif hat,
d. i. keine Art ausfinden kann, wie er ein solches Ding und
seine Art zuexistiren sich vorstellen solle. Denn wenn er es denkt
(er mag es denken wie er will), so ist es blos als möglich vor-
gestellt. Jst er sich dessen, als in der Anschauung gegeben
bewußt, so ist es wirklich, ohne sich hiebey irgend etwas von
Möglichkeit zu denken. Daher ist der Begrif eines absolut-
nothwendigen Wesens zwar eine unentbehrliche Vernunft-
idee, aber ein für den menschlichen Verstand unerreichbarer
problematischer Begrif. Er gilt aber doch für den Gebrauch
unserer Erkenntnisvermögen, nach der eigenthümlichen Be-
schaffenheit derselben, mithin nicht vom Objecte und hiemit
für jedes erkennende Wesen, weil ich nicht bey jedem das
Denken und die Anschauung als zwey verschiedene Bedin-
gungen der Ausübung ihrer Erkenntnisvermögen, mithin
der Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge voraussetzen
kann. Für einen Verstand, bey dem dieser Unterschied nicht
einträte, würde es heissen: alle Objecte, die ich erkenne,
sind (existiren) und die Möglichkeit einiger die doch nicht
existirten, d. i. die Zufälligkeit derselben, wenn sie existiren,
also auch die davon zu unterscheidende Nothwendigkeit, würde
in die Vorstellung eines solchen Wesens gar nicht kommen
können. Was unserm Verstande aber so beschwerlich fällt,

Kants Crit. d. Urtheilskr Y

II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
ſchied in den Dingen ſelbſt liege. Denn daß dieſes nicht dar-
aus gefolgert werden koͤnne, mithin jene Saͤtze zwar aller-
dings auch von Objecten gelten, ſo fern unſer Erkenntnisver-
moͤgen, als ſinnlich-bedingt, ſich auch mit Objecten der
Sinne beſchaͤftigt, aber nicht von Dingen uͤberhaupt, leuch-
tet aus der unnachlaslichen Forderung der Vernunft ein,
irgend ein Etwas (den Urgund) als unbedingt nothwendig
exiſtirend anzunehmen, an welchem Moͤglichkeit und Wirk-
lichkeit gar nicht mehr unterſchieden werden ſollen und fuͤr
welche Jdee unſer Verſtand ſchlechterdings keinen Begrif hat,
d. i. keine Art ausfinden kann, wie er ein ſolches Ding und
ſeine Art zuexiſtiren ſich vorſtellen ſolle. Denn wenn er es denkt
(er mag es denken wie er will), ſo iſt es blos als moͤglich vor-
geſtellt. Jſt er ſich deſſen, als in der Anſchauung gegeben
bewußt, ſo iſt es wirklich, ohne ſich hiebey irgend etwas von
Moͤglichkeit zu denken. Daher iſt der Begrif eines abſolut-
nothwendigen Weſens zwar eine unentbehrliche Vernunft-
idee, aber ein fuͤr den menſchlichen Verſtand unerreichbarer
problematiſcher Begrif. Er gilt aber doch fuͤr den Gebrauch
unſerer Erkenntnisvermoͤgen, nach der eigenthuͤmlichen Be-
ſchaffenheit derſelben, mithin nicht vom Objecte und hiemit
fuͤr jedes erkennende Weſen, weil ich nicht bey jedem das
Denken und die Anſchauung als zwey verſchiedene Bedin-
gungen der Ausuͤbung ihrer Erkenntnisvermoͤgen, mithin
der Moͤglichkeit und Wirklichkeit der Dinge vorausſetzen
kann. Fuͤr einen Verſtand, bey dem dieſer Unterſchied nicht
eintraͤte, wuͤrde es heiſſen: alle Objecte, die ich erkenne,
ſind (exiſtiren) und die Moͤglichkeit einiger die doch nicht
exiſtirten, d. i. die Zufaͤlligkeit derſelben, wenn ſie exiſtiren,
alſo auch die davon zu unterſcheidende Nothwendigkeit, wuͤrde
in die Vorſtellung eines ſolchen Weſens gar nicht kommen
koͤnnen. Was unſerm Verſtande aber ſo beſchwerlich faͤllt,

Kants Crit. d. Urtheilskr Y
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0401" n="337"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Th. Critik der teleologi&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
&#x017F;chied in den Dingen &#x017F;elb&#x017F;t liege. Denn daß die&#x017F;es nicht dar-<lb/>
aus gefolgert werden ko&#x0364;nne, mithin jene Sa&#x0364;tze zwar aller-<lb/>
dings auch von Objecten gelten, &#x017F;o fern un&#x017F;er Erkenntnisver-<lb/>
mo&#x0364;gen, als &#x017F;innlich-bedingt, &#x017F;ich auch mit Objecten der<lb/>
Sinne be&#x017F;cha&#x0364;ftigt, aber nicht von Dingen u&#x0364;berhaupt, leuch-<lb/>
tet aus der unnachlaslichen Forderung der Vernunft ein,<lb/>
irgend ein Etwas (den Urgund) als unbedingt nothwendig<lb/>
exi&#x017F;tirend anzunehmen, an welchem Mo&#x0364;glichkeit und Wirk-<lb/>
lichkeit gar nicht mehr unter&#x017F;chieden werden &#x017F;ollen und fu&#x0364;r<lb/>
welche Jdee un&#x017F;er Ver&#x017F;tand &#x017F;chlechterdings keinen Begrif hat,<lb/>
d. i. keine Art ausfinden kann, wie er ein &#x017F;olches Ding und<lb/>
&#x017F;eine Art zuexi&#x017F;tiren &#x017F;ich vor&#x017F;tellen &#x017F;olle. Denn wenn er es denkt<lb/>
(er mag es denken wie er will), &#x017F;o i&#x017F;t es blos als mo&#x0364;glich vor-<lb/>
ge&#x017F;tellt. J&#x017F;t er &#x017F;ich de&#x017F;&#x017F;en, als in der An&#x017F;chauung gegeben<lb/>
bewußt, &#x017F;o i&#x017F;t es wirklich, ohne &#x017F;ich hiebey irgend etwas von<lb/>
Mo&#x0364;glichkeit zu denken. Daher i&#x017F;t der Begrif eines ab&#x017F;olut-<lb/>
nothwendigen We&#x017F;ens zwar eine unentbehrliche Vernunft-<lb/>
idee, aber ein fu&#x0364;r den men&#x017F;chlichen Ver&#x017F;tand unerreichbarer<lb/>
problemati&#x017F;cher Begrif. Er gilt aber doch fu&#x0364;r den Gebrauch<lb/>
un&#x017F;erer Erkenntnisvermo&#x0364;gen, nach der eigenthu&#x0364;mlichen Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit der&#x017F;elben, mithin nicht vom Objecte und hiemit<lb/>
fu&#x0364;r jedes erkennende We&#x017F;en, weil ich nicht bey jedem das<lb/>
Denken und die An&#x017F;chauung als zwey ver&#x017F;chiedene Bedin-<lb/>
gungen der Ausu&#x0364;bung ihrer Erkenntnisvermo&#x0364;gen, mithin<lb/>
der Mo&#x0364;glichkeit und Wirklichkeit der Dinge voraus&#x017F;etzen<lb/>
kann. Fu&#x0364;r einen Ver&#x017F;tand, bey dem die&#x017F;er Unter&#x017F;chied nicht<lb/>
eintra&#x0364;te, wu&#x0364;rde es hei&#x017F;&#x017F;en: alle Objecte, die ich erkenne,<lb/>
&#x017F;ind (exi&#x017F;tiren) und die Mo&#x0364;glichkeit einiger die doch nicht<lb/>
exi&#x017F;tirten, d. i. die Zufa&#x0364;lligkeit der&#x017F;elben, wenn &#x017F;ie exi&#x017F;tiren,<lb/>
al&#x017F;o auch die davon zu unter&#x017F;cheidende Nothwendigkeit, wu&#x0364;rde<lb/>
in die Vor&#x017F;tellung eines &#x017F;olchen We&#x017F;ens gar nicht kommen<lb/>
ko&#x0364;nnen. Was un&#x017F;erm Ver&#x017F;tande aber &#x017F;o be&#x017F;chwerlich fa&#x0364;llt,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Kants Crit. d. Urtheilskr</hi> Y</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[337/0401] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. ſchied in den Dingen ſelbſt liege. Denn daß dieſes nicht dar- aus gefolgert werden koͤnne, mithin jene Saͤtze zwar aller- dings auch von Objecten gelten, ſo fern unſer Erkenntnisver- moͤgen, als ſinnlich-bedingt, ſich auch mit Objecten der Sinne beſchaͤftigt, aber nicht von Dingen uͤberhaupt, leuch- tet aus der unnachlaslichen Forderung der Vernunft ein, irgend ein Etwas (den Urgund) als unbedingt nothwendig exiſtirend anzunehmen, an welchem Moͤglichkeit und Wirk- lichkeit gar nicht mehr unterſchieden werden ſollen und fuͤr welche Jdee unſer Verſtand ſchlechterdings keinen Begrif hat, d. i. keine Art ausfinden kann, wie er ein ſolches Ding und ſeine Art zuexiſtiren ſich vorſtellen ſolle. Denn wenn er es denkt (er mag es denken wie er will), ſo iſt es blos als moͤglich vor- geſtellt. Jſt er ſich deſſen, als in der Anſchauung gegeben bewußt, ſo iſt es wirklich, ohne ſich hiebey irgend etwas von Moͤglichkeit zu denken. Daher iſt der Begrif eines abſolut- nothwendigen Weſens zwar eine unentbehrliche Vernunft- idee, aber ein fuͤr den menſchlichen Verſtand unerreichbarer problematiſcher Begrif. Er gilt aber doch fuͤr den Gebrauch unſerer Erkenntnisvermoͤgen, nach der eigenthuͤmlichen Be- ſchaffenheit derſelben, mithin nicht vom Objecte und hiemit fuͤr jedes erkennende Weſen, weil ich nicht bey jedem das Denken und die Anſchauung als zwey verſchiedene Bedin- gungen der Ausuͤbung ihrer Erkenntnisvermoͤgen, mithin der Moͤglichkeit und Wirklichkeit der Dinge vorausſetzen kann. Fuͤr einen Verſtand, bey dem dieſer Unterſchied nicht eintraͤte, wuͤrde es heiſſen: alle Objecte, die ich erkenne, ſind (exiſtiren) und die Moͤglichkeit einiger die doch nicht exiſtirten, d. i. die Zufaͤlligkeit derſelben, wenn ſie exiſtiren, alſo auch die davon zu unterſcheidende Nothwendigkeit, wuͤrde in die Vorſtellung eines ſolchen Weſens gar nicht kommen koͤnnen. Was unſerm Verſtande aber ſo beſchwerlich faͤllt, Kants Crit. d. Urtheilskr Y

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/401
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/401>, abgerufen am 20.05.2024.