Schmerz, so unmerklich beydes auch seyn mag, verbunden werden können (weil sie insgesamt das Gefühl des Lebens afficiren und keine derselben, sofern als sie Modification des Subjects ist, indifferent seyn kann) so gar, daß, wie Epicur behauptete, alles Vergnügen und Schmerz zuletzt doch kör- perlich sey, es mag immer von der Einbildung oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen, weil das Leben ohne das Gefühl des köxperlichen Organs blos Bewußtseyn seiner Exi- stenz, aber kein Gefühl des Wohl- oder Uebelbefindens, d. i. der Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte sey; weil das Gemüth für sich allein ganz Leben (das Lebensprincip selbst) ist und Hindernisse oder Beförderungen außer demsel- ben und doch im Menschen selbst, mithin in der Verbindung mit seinem Körper gesucht werden müssen.
Setzt man aber das Wohlgefallen am Gegenstande ganz und gar darin, daß dieser durch Reiz oder durch Rührung vergnügt, so muß man auch keinem andern zumuthen zu dem ästhetischen Urtheile, was wir fällen, beyzustimmen; denn darüber befrägt ein jeder mit Recht nur seinen Privatsinn. Alsdenn aber hört auch alle Censur des Geschmacks gänzlich auf; man müßte denn das Beyspiel, welches andere, durch die zufällige Uebereinstimmung ihrer Urtheile, geben, zum Gebot des Beyfalls für uns machen, wider welches Prin- cip wir uns doch vermuthlich sträuben und auf das natürliche Recht berufen würden, das Urtheil, welches auf dem unmit- telbaren Gefühle des eigenen Wohlbefindens beruht, seinem eigenen Sinne und nicht anderer ihrem zu unterwerfen.
Wenn also das Geschmacksurtheil nicht für egoistisch, sondern seiner inneren Natur nach, d. i. um sein selbst, nicht um der Beyspiele willen, die andere von ihrem Geschmack geben, nothwendig als pluralistisch gelten muß, wenn man es als ein solches würdigt, welches zugleich verlangen
darf,
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Schmerz, ſo unmerklich beydes auch ſeyn mag, verbunden werden koͤnnen (weil ſie insgeſamt das Gefuͤhl des Lebens afficiren und keine derſelben, ſofern als ſie Modification des Subjects iſt, indifferent ſeyn kann) ſo gar, daß, wie Epicur behauptete, alles Vergnuͤgen und Schmerz zuletzt doch koͤr- perlich ſey, es mag immer von der Einbildung oder gar von Verſtandesvorſtellungen anfangen, weil das Leben ohne das Gefuͤhl des koͤxperlichen Organs blos Bewußtſeyn ſeiner Exi- ſtenz, aber kein Gefuͤhl des Wohl- oder Uebelbefindens, d. i. der Befoͤrderung oder Hemmung der Lebenskraͤfte ſey; weil das Gemuͤth fuͤr ſich allein ganz Leben (das Lebensprincip ſelbſt) iſt und Hinderniſſe oder Befoͤrderungen außer demſel- ben und doch im Menſchen ſelbſt, mithin in der Verbindung mit ſeinem Koͤrper geſucht werden muͤſſen.
Setzt man aber das Wohlgefallen am Gegenſtande ganz und gar darin, daß dieſer durch Reiz oder durch Ruͤhrung vergnuͤgt, ſo muß man auch keinem andern zumuthen zu dem aͤſthetiſchen Urtheile, was wir faͤllen, beyzuſtimmen; denn daruͤber befraͤgt ein jeder mit Recht nur ſeinen Privatſinn. Alsdenn aber hoͤrt auch alle Cenſur des Geſchmacks gaͤnzlich auf; man muͤßte denn das Beyſpiel, welches andere, durch die zufaͤllige Uebereinſtimmung ihrer Urtheile, geben, zum Gebot des Beyfalls fuͤr uns machen, wider welches Prin- cip wir uns doch vermuthlich ſtraͤuben und auf das natuͤrliche Recht berufen wuͤrden, das Urtheil, welches auf dem unmit- telbaren Gefuͤhle des eigenen Wohlbefindens beruht, ſeinem eigenen Sinne und nicht anderer ihrem zu unterwerfen.
Wenn alſo das Geſchmacksurtheil nicht fuͤr egoiſtiſch, ſondern ſeiner inneren Natur nach, d. i. um ſein ſelbſt, nicht um der Beyſpiele willen, die andere von ihrem Geſchmack geben, nothwendig als pluraliſtiſch gelten muß, wenn man es als ein ſolches wuͤrdigt, welches zugleich verlangen
darf,
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Schmerz, ſo unmerklich beydes auch ſeyn mag, verbunden
werden koͤnnen (weil ſie insgeſamt das Gefuͤhl des Lebens
afficiren und keine derſelben, ſofern als ſie Modification des
Subjects iſt, indifferent ſeyn kann) ſo gar, daß, wie Epicur
behauptete, alles Vergnuͤgen und Schmerz zuletzt doch koͤr-
perlich ſey, es mag immer von der Einbildung oder gar von
Verſtandesvorſtellungen anfangen, weil das Leben ohne das
Gefuͤhl des koͤxperlichen Organs blos Bewußtſeyn ſeiner Exi-
ſtenz, aber kein Gefuͤhl des Wohl- oder Uebelbefindens, d. i.
der Befoͤrderung oder Hemmung der Lebenskraͤfte ſey; weil
das Gemuͤth fuͤr ſich allein ganz Leben (das Lebensprincip
ſelbſt) iſt und Hinderniſſe oder Befoͤrderungen außer demſel-
ben und doch im Menſchen ſelbſt, mithin in der Verbindung
mit ſeinem Koͤrper geſucht werden muͤſſen.
Setzt man aber das Wohlgefallen am Gegenſtande ganz
und gar darin, daß dieſer durch Reiz oder durch Ruͤhrung
vergnuͤgt, ſo muß man auch keinem andern zumuthen zu dem
aͤſthetiſchen Urtheile, was wir faͤllen, beyzuſtimmen; denn
daruͤber befraͤgt ein jeder mit Recht nur ſeinen Privatſinn.
Alsdenn aber hoͤrt auch alle Cenſur des Geſchmacks gaͤnzlich
auf; man muͤßte denn das Beyſpiel, welches andere, durch
die zufaͤllige Uebereinſtimmung ihrer Urtheile, geben, zum
Gebot des Beyfalls fuͤr uns machen, wider welches Prin-
cip wir uns doch vermuthlich ſtraͤuben und auf das natuͤrliche
Recht berufen wuͤrden, das Urtheil, welches auf dem unmit-
telbaren Gefuͤhle des eigenen Wohlbefindens beruht, ſeinem
eigenen Sinne und nicht anderer ihrem zu unterwerfen.
Wenn alſo das Geſchmacksurtheil nicht fuͤr egoiſtiſch,
ſondern ſeiner inneren Natur nach, d. i. um ſein ſelbſt, nicht
um der Beyſpiele willen, die andere von ihrem Geſchmack
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/192>, abgerufen am 15.08.2024.
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