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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Von der Normalidee des Schönen ist doch noch
das Jdeal desselben unterschieden, welches man ledig-
lich an der menschlichen Gestalt aus schon angeführ-
ten Gründen erwarten darf. An dieser nun besteht das
Jdeal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne welches
der Gegenstand nicht allgemein und dazu positiv (nicht
blos negativ in einer schulgerechten Darstellung) gefallen
würde. Der sichtbare Ausdruck sittlicher Jdeen, die den
Menschen innerlich beherrschen, kann zwar nur aus der
Erfahrung genommen werden; aber ihre Verbindung
mit allem dem, was unsere Vernunft mit dem Sittlich-
Guten in der Jdee der höchsten Zweckmäßigkeitverknüpft,
die Seelengüte, oder Reinigkeit, oder Stärke, oder

möchte, gemeiniglich nichts sagt; weil es nichts Characte-
ristisches enthält, also mehr die Jdee der Gattung, als das
Specifische einer Person ausdrückt. Das Characteristische
von dieser Art, was übertrieben ist, d. i. welches der Nor-
malidee (der Zweckmäßigkeit der Gattung) selbst Abbruch
thut, heißt Carricatur. Auch zeigt die Erfahrung: daß
jene ganz regelmäßige Gesichter im Jnnern gemeiniglich
eben sowohl einen nur mittelmäßigen Menschen verrathen,
vermuthlich (wenn angenommen werden darf, daß die Na-
tur im Aeußeren die Proportion des Jnneren ausdrücke)
deswegen, weil, wenn keine von den Gemüthsanlagen über
diejenige Proportion hervorstechend ist, die erfordert wird
blos einen fehlerfreyen Menschen auszumachen, nichts von
dem, was man Genie nennt, erwartet werden darf, in
welchem die Natur von ihren gewöhnlichen Verhältnissen
der Gemüthskräfte zum Vortheil einer einzigen abzugehen
scheint.
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Von der Normalidee des Schoͤnen iſt doch noch
das Jdeal deſſelben unterſchieden, welches man ledig-
lich an der menſchlichen Geſtalt aus ſchon angefuͤhr-
ten Gruͤnden erwarten darf. An dieſer nun beſteht das
Jdeal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne welches
der Gegenſtand nicht allgemein und dazu poſitiv (nicht
blos negativ in einer ſchulgerechten Darſtellung) gefallen
wuͤrde. Der ſichtbare Ausdruck ſittlicher Jdeen, die den
Menſchen innerlich beherrſchen, kann zwar nur aus der
Erfahrung genommen werden; aber ihre Verbindung
mit allem dem, was unſere Vernunft mit dem Sittlich-
Guten in der Jdee der hoͤchſten Zweckmaͤßigkeitverknuͤpft,
die Seelenguͤte, oder Reinigkeit, oder Staͤrke, oder

moͤchte, gemeiniglich nichts ſagt; weil es nichts Characte-
riſtiſches enthaͤlt, alſo mehr die Jdee der Gattung, als das
Specifiſche einer Perſon ausdruͤckt. Das Characteriſtiſche
von dieſer Art, was uͤbertrieben iſt, d. i. welches der Nor-
malidee (der Zweckmaͤßigkeit der Gattung) ſelbſt Abbruch
thut, heißt Carricatur. Auch zeigt die Erfahrung: daß
jene ganz regelmaͤßige Geſichter im Jnnern gemeiniglich
eben ſowohl einen nur mittelmaͤßigen Menſchen verrathen,
vermuthlich (wenn angenommen werden darf, daß die Na-
tur im Aeußeren die Proportion des Jnneren ausdruͤcke)
deswegen, weil, wenn keine von den Gemuͤthsanlagen uͤber
diejenige Proportion hervorſtechend iſt, die erfordert wird
blos einen fehlerfreyen Menſchen auszumachen, nichts von
dem, was man Genie nennt, erwartet werden darf, in
welchem die Natur von ihren gewoͤhnlichen Verhaͤltniſſen
der Gemuͤthskraͤfte zum Vortheil einer einzigen abzugehen
ſcheint.
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[59/0123] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Von der Normalidee des Schoͤnen iſt doch noch das Jdeal deſſelben unterſchieden, welches man ledig- lich an der menſchlichen Geſtalt aus ſchon angefuͤhr- ten Gruͤnden erwarten darf. An dieſer nun beſteht das Jdeal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne welches der Gegenſtand nicht allgemein und dazu poſitiv (nicht blos negativ in einer ſchulgerechten Darſtellung) gefallen wuͤrde. Der ſichtbare Ausdruck ſittlicher Jdeen, die den Menſchen innerlich beherrſchen, kann zwar nur aus der Erfahrung genommen werden; aber ihre Verbindung mit allem dem, was unſere Vernunft mit dem Sittlich- Guten in der Jdee der hoͤchſten Zweckmaͤßigkeitverknuͤpft, die Seelenguͤte, oder Reinigkeit, oder Staͤrke, oder *) *) moͤchte, gemeiniglich nichts ſagt; weil es nichts Characte- riſtiſches enthaͤlt, alſo mehr die Jdee der Gattung, als das Specifiſche einer Perſon ausdruͤckt. Das Characteriſtiſche von dieſer Art, was uͤbertrieben iſt, d. i. welches der Nor- malidee (der Zweckmaͤßigkeit der Gattung) ſelbſt Abbruch thut, heißt Carricatur. Auch zeigt die Erfahrung: daß jene ganz regelmaͤßige Geſichter im Jnnern gemeiniglich eben ſowohl einen nur mittelmaͤßigen Menſchen verrathen, vermuthlich (wenn angenommen werden darf, daß die Na- tur im Aeußeren die Proportion des Jnneren ausdruͤcke) deswegen, weil, wenn keine von den Gemuͤthsanlagen uͤber diejenige Proportion hervorſtechend iſt, die erfordert wird blos einen fehlerfreyen Menſchen auszumachen, nichts von dem, was man Genie nennt, erwartet werden darf, in welchem die Natur von ihren gewoͤhnlichen Verhaͤltniſſen der Gemuͤthskraͤfte zum Vortheil einer einzigen abzugehen ſcheint.

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/123>, abgerufen am 24.11.2024.