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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
rern von derselben Art, ein Mittleres herauszubekommen
wissen, welches allen zum gemeinschaftlichen Maaße dient.
Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen.
Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Nor-
malgröße urtheilen, so läßt (meiner Meynung nach) die
Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht
alle jene tausend) auf einander fallen, und, wenn es
mir erlaubt ist hiebey die Analogie der optischen Darstel-
lung anzuwenden, der Raum, wo die meisten sich verei-
nigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Plaz mit der
am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird
die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als
Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und
kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist
die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte eben-
dasselbe mechanisch heraus bekommen, wenn man alle
tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und
Dicken) für sich zusammen addirte und die Summe durch
tausend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut eben
dieses durch einen dynamischen Effect, der aus der viel-
fältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des
innern Sinnes entspringt.) Wenn nun auf ähnliche Art
für diesen mittlern Mann der mittlere Kopf, für diesen
die mittlere Nase u. s. w. gesucht wird, so ist diese Gestalt
das Jdeal des schönen Mannes, in dem Lande, da diese
Vergleichung angestellt wird; daher ein Reger nothwendig
ein anderes Jdeal der Schönheit der Gestalt haben muß,

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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
rern von derſelben Art, ein Mittleres herauszubekommen
wiſſen, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maaße dient.
Jemand hat tauſend erwachſene Mannsperſonen geſehen.
Will er nun uͤber die vergleichungsweiſe zu ſchaͤtzende Nor-
malgroͤße urtheilen, ſo laͤßt (meiner Meynung nach) die
Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht
alle jene tauſend) auf einander fallen, und, wenn es
mir erlaubt iſt hiebey die Analogie der optiſchen Darſtel-
lung anzuwenden, der Raum, wo die meiſten ſich verei-
nigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Plaz mit der
am ſtaͤrkſten aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird
die mittlere Groͤße kenntlich, die ſowohl der Hoͤhe als
Breite nach von den aͤußerſten Grenzen der groͤßten und
kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dies iſt
die Statur fuͤr einen ſchoͤnen Mann. (Man koͤnnte eben-
daſſelbe mechaniſch heraus bekommen, wenn man alle
tauſend maͤße, ihre Hoͤhen unter ſich und Breiten (und
Dicken) fuͤr ſich zuſammen addirte und die Summe durch
tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut eben
dieſes durch einen dynamiſchen Effect, der aus der viel-
faͤltigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten auf das Organ des
innern Sinnes entſpringt.) Wenn nun auf aͤhnliche Art
fuͤr dieſen mittlern Mann der mittlere Kopf, fuͤr dieſen
die mittlere Naſe u. ſ. w. geſucht wird, ſo iſt dieſe Geſtalt
das Jdeal des ſchoͤnen Mannes, in dem Lande, da dieſe
Vergleichung angeſtellt wird; daher ein Reger nothwendig
ein anderes Jdeal der Schoͤnheit der Geſtalt haben muß,

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[57/0121] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. rern von derſelben Art, ein Mittleres herauszubekommen wiſſen, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maaße dient. Jemand hat tauſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun uͤber die vergleichungsweiſe zu ſchaͤtzende Nor- malgroͤße urtheilen, ſo laͤßt (meiner Meynung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend) auf einander fallen, und, wenn es mir erlaubt iſt hiebey die Analogie der optiſchen Darſtel- lung anzuwenden, der Raum, wo die meiſten ſich verei- nigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Plaz mit der am ſtaͤrkſten aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die mittlere Groͤße kenntlich, die ſowohl der Hoͤhe als Breite nach von den aͤußerſten Grenzen der groͤßten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dies iſt die Statur fuͤr einen ſchoͤnen Mann. (Man koͤnnte eben- daſſelbe mechaniſch heraus bekommen, wenn man alle tauſend maͤße, ihre Hoͤhen unter ſich und Breiten (und Dicken) fuͤr ſich zuſammen addirte und die Summe durch tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut eben dieſes durch einen dynamiſchen Effect, der aus der viel- faͤltigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten auf das Organ des innern Sinnes entſpringt.) Wenn nun auf aͤhnliche Art fuͤr dieſen mittlern Mann der mittlere Kopf, fuͤr dieſen die mittlere Naſe u. ſ. w. geſucht wird, ſo iſt dieſe Geſtalt das Jdeal des ſchoͤnen Mannes, in dem Lande, da dieſe Vergleichung angeſtellt wird; daher ein Reger nothwendig ein anderes Jdeal der Schoͤnheit der Geſtalt haben muß, D 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/121>, abgerufen am 09.05.2024.