Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Methodenlehre I. Hauptst. III. Absch.
intelligibel sey, den Zeitveränderungen gar nicht unter-
worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch
durch den Tod geendigt werde. Daß dieses Leben nichts
als eine blosse Erscheinung, d. i. eine sinnliche Vorstellung
von dem reinen geistigen Leben und die ganze Sinnenwelt
ein blosses Bild sey, welches unserer iezigen Erkentnißart vor-
schwebt und, wie ein Traum, an sich keine obiective Rea-
lität habe: daß, wenn wir die Sachen und uns selbst an-
schauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geisti-
ger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig-
wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe,
noch durch den Leibestod (als blosse Erscheinungen) auf-
hören werde, u. s. w.

Ob wir nun gleich von allem diesem, was wir hier
wider den Angriff hypothetisch vorschützen, nicht das Min-
deste wissen, noch im Ernste behaupten, sondern alles nicht
einmal Vernunftidee, sondern blos zur Gegenwehr aus-
gedachter Begriff ist, so verfahren wir doch hiebey ganz
vernunftmässig, indem wir dem Gegner, welcher alle Mög-
lichkeit erschöpft zu haben meint, indem er den Mangel
ihrer empirischen Bedingungen vor einen Beweis der
gänzlichen Unmöglichkeit, des von uns Geglaubten, fälsch-
lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben so wenig durch blos-
se Erfahrungsgesetze das ganze Feld möglicher Dinge an
sich selbst umspannen, als wir ausserhalb der Erfahrung
vor unsere Vernunft irgend etwas auf gegründete Art er-
werben können. Der solche hypothetische Gegenmittel wi-

der

Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch.
intelligibel ſey, den Zeitveraͤnderungen gar nicht unter-
worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch
durch den Tod geendigt werde. Daß dieſes Leben nichts
als eine bloſſe Erſcheinung, d. i. eine ſinnliche Vorſtellung
von dem reinen geiſtigen Leben und die ganze Sinnenwelt
ein bloſſes Bild ſey, welches unſerer iezigen Erkentnißart vor-
ſchwebt und, wie ein Traum, an ſich keine obiective Rea-
litaͤt habe: daß, wenn wir die Sachen und uns ſelbſt an-
ſchauen ſollen, wie ſie ſind, wir uns in einer Welt geiſti-
ger Naturen ſehen wuͤrden, mit welcher unſere einzig-
wahre Gemeinſchaft weder durch Geburt angefangen habe,
noch durch den Leibestod (als bloſſe Erſcheinungen) auf-
hoͤren werde, u. ſ. w.

Ob wir nun gleich von allem dieſem, was wir hier
wider den Angriff hypothetiſch vorſchuͤtzen, nicht das Min-
deſte wiſſen, noch im Ernſte behaupten, ſondern alles nicht
einmal Vernunftidee, ſondern blos zur Gegenwehr aus-
gedachter Begriff iſt, ſo verfahren wir doch hiebey ganz
vernunftmaͤſſig, indem wir dem Gegner, welcher alle Moͤg-
lichkeit erſchoͤpft zu haben meint, indem er den Mangel
ihrer empiriſchen Bedingungen vor einen Beweis der
gaͤnzlichen Unmoͤglichkeit, des von uns Geglaubten, faͤlſch-
lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben ſo wenig durch bloſ-
ſe Erfahrungsgeſetze das ganze Feld moͤglicher Dinge an
ſich ſelbſt umſpannen, als wir auſſerhalb der Erfahrung
vor unſere Vernunft irgend etwas auf gegruͤndete Art er-
werben koͤnnen. Der ſolche hypothetiſche Gegenmittel wi-

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0810" n="780"/><fw place="top" type="header">Methodenlehre <hi rendition="#aq">I.</hi> Haupt&#x017F;t. <hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;ch.</fw><lb/>
intelligibel &#x017F;ey, den Zeitvera&#x0364;nderungen gar nicht unter-<lb/>
worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch<lb/>
durch den Tod geendigt werde. Daß die&#x017F;es Leben nichts<lb/>
als eine blo&#x017F;&#x017F;e Er&#x017F;cheinung, d. i. eine &#x017F;innliche Vor&#x017F;tellung<lb/>
von dem reinen gei&#x017F;tigen Leben und die ganze Sinnenwelt<lb/>
ein blo&#x017F;&#x017F;es Bild &#x017F;ey, welches un&#x017F;erer iezigen Erkentnißart vor-<lb/>
&#x017F;chwebt und, wie ein Traum, an &#x017F;ich keine obiective Rea-<lb/>
lita&#x0364;t habe: daß, wenn wir die Sachen und uns &#x017F;elb&#x017F;t an-<lb/>
&#x017F;chauen &#x017F;ollen, <hi rendition="#fr">wie &#x017F;ie &#x017F;ind,</hi> wir uns in einer Welt gei&#x017F;ti-<lb/>
ger Naturen &#x017F;ehen wu&#x0364;rden, mit welcher un&#x017F;ere einzig-<lb/>
wahre Gemein&#x017F;chaft weder durch Geburt angefangen habe,<lb/>
noch durch den Leibestod (als blo&#x017F;&#x017F;e Er&#x017F;cheinungen) auf-<lb/>
ho&#x0364;ren werde, u. &#x017F;. w.</p><lb/>
            <p>Ob wir nun gleich von allem die&#x017F;em, was wir hier<lb/>
wider den Angriff hypotheti&#x017F;ch vor&#x017F;chu&#x0364;tzen, nicht das Min-<lb/>
de&#x017F;te wi&#x017F;&#x017F;en, noch im Ern&#x017F;te behaupten, &#x017F;ondern alles nicht<lb/>
einmal Vernunftidee, &#x017F;ondern blos zur Gegenwehr aus-<lb/>
gedachter Begriff i&#x017F;t, &#x017F;o verfahren wir doch hiebey ganz<lb/>
vernunftma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig, indem wir dem Gegner, welcher alle Mo&#x0364;g-<lb/>
lichkeit er&#x017F;cho&#x0364;pft zu haben meint, indem er den Mangel<lb/>
ihrer empiri&#x017F;chen Bedingungen vor einen Beweis der<lb/>
ga&#x0364;nzlichen Unmo&#x0364;glichkeit, des von uns Geglaubten, fa&#x0364;l&#x017F;ch-<lb/>
lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben &#x017F;o wenig durch blo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;e Erfahrungsge&#x017F;etze das ganze Feld mo&#x0364;glicher Dinge an<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t um&#x017F;pannen, als wir au&#x017F;&#x017F;erhalb der Erfahrung<lb/>
vor un&#x017F;ere Vernunft irgend etwas auf gegru&#x0364;ndete Art er-<lb/>
werben ko&#x0364;nnen. Der &#x017F;olche hypotheti&#x017F;che Gegenmittel wi-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[780/0810] Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch. intelligibel ſey, den Zeitveraͤnderungen gar nicht unter- worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde. Daß dieſes Leben nichts als eine bloſſe Erſcheinung, d. i. eine ſinnliche Vorſtellung von dem reinen geiſtigen Leben und die ganze Sinnenwelt ein bloſſes Bild ſey, welches unſerer iezigen Erkentnißart vor- ſchwebt und, wie ein Traum, an ſich keine obiective Rea- litaͤt habe: daß, wenn wir die Sachen und uns ſelbſt an- ſchauen ſollen, wie ſie ſind, wir uns in einer Welt geiſti- ger Naturen ſehen wuͤrden, mit welcher unſere einzig- wahre Gemeinſchaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod (als bloſſe Erſcheinungen) auf- hoͤren werde, u. ſ. w. Ob wir nun gleich von allem dieſem, was wir hier wider den Angriff hypothetiſch vorſchuͤtzen, nicht das Min- deſte wiſſen, noch im Ernſte behaupten, ſondern alles nicht einmal Vernunftidee, ſondern blos zur Gegenwehr aus- gedachter Begriff iſt, ſo verfahren wir doch hiebey ganz vernunftmaͤſſig, indem wir dem Gegner, welcher alle Moͤg- lichkeit erſchoͤpft zu haben meint, indem er den Mangel ihrer empiriſchen Bedingungen vor einen Beweis der gaͤnzlichen Unmoͤglichkeit, des von uns Geglaubten, faͤlſch- lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben ſo wenig durch bloſ- ſe Erfahrungsgeſetze das ganze Feld moͤglicher Dinge an ſich ſelbſt umſpannen, als wir auſſerhalb der Erfahrung vor unſere Vernunft irgend etwas auf gegruͤndete Art er- werben koͤnnen. Der ſolche hypothetiſche Gegenmittel wi- der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/810
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/810>, abgerufen am 16.07.2024.