Ein solcher Mißverstand kan aber nicht vorgewandt und dadurch der Streit der Vernunft beygelegt werden, wenn etwa theistisch behauptet würde: es ist ein höchstes Wesen und dagegen atheistisch: es ist kein höchstes We- sen, oder, in der Psychologie: alles was da denkt, ist von absoluter beharrlicher Einheit und also von aller ver- gänglichen materiellen Einheit unterschieden, welchem ein anderer entgegensezte: die Seele ist nicht immaterielle Ein- heit und kan von der Vergänglichkeit nicht ausgenommen werden. Denn der Gegenstand der Frage ist hier von al- lem fremdartigen, das seiner Natur widerspricht, frey und der Verstand hat es nur mit Sachen an sich selbst und nicht mit Erscheinungen zu thun. Es würde also hier freilich ein wahrer Widerstreit anzutreffen seyn, wenn nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte, was dem Grunde einer Behauptung nahe käme; denn was die Critik der Beweisgründe des Dogma- tischbeiahenden betrift, die kan man ihm sehr wol ein- räumen, ohne darum diese Sätze aufzugeben, die doch wenigstens das Interesse der Vernunft vor sich haben, dar- auf sich der Gegner gar nicht berufen kan.
Ich bin zwar nicht der Meinung, welche vortrefliche und nachdenkende Männer (z. B. Sulzer) so oft geäus- sert haben, da sie die Schwäche der bisherigen Beweise fühlten: daß man hoffen könne, man werde dereinst noch evidente Demonstrationen der zween Cardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Le-
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
Ein ſolcher Mißverſtand kan aber nicht vorgewandt und dadurch der Streit der Vernunft beygelegt werden, wenn etwa theiſtiſch behauptet wuͤrde: es iſt ein hoͤchſtes Weſen und dagegen atheiſtiſch: es iſt kein hoͤchſtes We- ſen, oder, in der Pſychologie: alles was da denkt, iſt von abſoluter beharrlicher Einheit und alſo von aller ver- gaͤnglichen materiellen Einheit unterſchieden, welchem ein anderer entgegenſezte: die Seele iſt nicht immaterielle Ein- heit und kan von der Vergaͤnglichkeit nicht ausgenommen werden. Denn der Gegenſtand der Frage iſt hier von al- lem fremdartigen, das ſeiner Natur widerſpricht, frey und der Verſtand hat es nur mit Sachen an ſich ſelbſt und nicht mit Erſcheinungen zu thun. Es wuͤrde alſo hier freilich ein wahrer Widerſtreit anzutreffen ſeyn, wenn nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas zu ſagen haͤtte, was dem Grunde einer Behauptung nahe kaͤme; denn was die Critik der Beweisgruͤnde des Dogma- tiſchbeiahenden betrift, die kan man ihm ſehr wol ein- raͤumen, ohne darum dieſe Saͤtze aufzugeben, die doch wenigſtens das Intereſſe der Vernunft vor ſich haben, dar- auf ſich der Gegner gar nicht berufen kan.
Ich bin zwar nicht der Meinung, welche vortrefliche und nachdenkende Maͤnner (z. B. Sulzer) ſo oft geaͤuſ- ſert haben, da ſie die Schwaͤche der bisherigen Beweiſe fuͤhlten: daß man hoffen koͤnne, man werde dereinſt noch evidente Demonſtrationen der zween Cardinalſaͤtze unſerer reinen Vernunft: es iſt ein Gott, es iſt ein kuͤnftiges Le-
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
Ein ſolcher Mißverſtand kan aber nicht vorgewandt
und dadurch der Streit der Vernunft beygelegt werden,
wenn etwa theiſtiſch behauptet wuͤrde: es iſt ein hoͤchſtes
Weſen und dagegen atheiſtiſch: es iſt kein hoͤchſtes We-
ſen, oder, in der Pſychologie: alles was da denkt, iſt
von abſoluter beharrlicher Einheit und alſo von aller ver-
gaͤnglichen materiellen Einheit unterſchieden, welchem ein
anderer entgegenſezte: die Seele iſt nicht immaterielle Ein-
heit und kan von der Vergaͤnglichkeit nicht ausgenommen
werden. Denn der Gegenſtand der Frage iſt hier von al-
lem fremdartigen, das ſeiner Natur widerſpricht, frey
und der Verſtand hat es nur mit Sachen an ſich ſelbſt
und nicht mit Erſcheinungen zu thun. Es wuͤrde alſo hier
freilich ein wahrer Widerſtreit anzutreffen ſeyn, wenn
nur die reine Vernunft auf der verneinenden Seite etwas
zu ſagen haͤtte, was dem Grunde einer Behauptung nahe
kaͤme; denn was die Critik der Beweisgruͤnde des Dogma-
tiſchbeiahenden betrift, die kan man ihm ſehr wol ein-
raͤumen, ohne darum dieſe Saͤtze aufzugeben, die doch
wenigſtens das Intereſſe der Vernunft vor ſich haben, dar-
auf ſich der Gegner gar nicht berufen kan.
Ich bin zwar nicht der Meinung, welche vortrefliche
und nachdenkende Maͤnner (z. B. Sulzer) ſo oft geaͤuſ-
ſert haben, da ſie die Schwaͤche der bisherigen Beweiſe
fuͤhlten: daß man hoffen koͤnne, man werde dereinſt noch
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 741. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/771>, abgerufen am 23.11.2024.
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