Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Disciplin der reinen Vernunft im dogm. etc.
Gebrauche sich eben so glücklich und gründlich erweitern
zu können, als es ihr im mathematischen gelungen ist,
wenn sie vornemlich dieselbe Methode dort anwendet, die
hier von so augenscheinlichem Nutzen gewesen ist. Es liegt
uns also viel daran, zu wissen: ob die Methode, zur apo-
dictischen Gewißheit zu gelangen, die man in der lezteren
Wissenschaft mathematisch nent, mit derienigen einerley
sey, womit man eben dieselbe Gewißheit in der Philoso-
phie sucht, und die daselbst dogmatisch genant werden
müßte.

Die philosophische Erkentniß ist die Vernunfter-
kentniß
aus Begriffen, die mathematische aus der Con-
struction
der Begriffe. Einen Begriff aber construiren
heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori dar-
stellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine
nicht empirische Anschauung erfordert, die folglich, als
Anschauung, ein einzelnes Obiect ist, aber nichts desto-
weniger als die Construction eines Begriffs (einer allge-
meinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit vor alle mögliche
Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der
Vorstellung ausdrücken muß. So construire ich einen
Triangel, indem ich den, diesem Begriffe entsprechenden
Gegenstand, entweder durch blosse Einbildung, in der rei-
nen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der
empirischen Anschauung, beide male aber völlig a priori,
ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt
zu haben, darstelle. Die einzelne hingezeichnete Figur ist

empi-
Y y 5

Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
Gebrauche ſich eben ſo gluͤcklich und gruͤndlich erweitern
zu koͤnnen, als es ihr im mathematiſchen gelungen iſt,
wenn ſie vornemlich dieſelbe Methode dort anwendet, die
hier von ſo augenſcheinlichem Nutzen geweſen iſt. Es liegt
uns alſo viel daran, zu wiſſen: ob die Methode, zur apo-
dictiſchen Gewißheit zu gelangen, die man in der lezteren
Wiſſenſchaft mathematiſch nent, mit derienigen einerley
ſey, womit man eben dieſelbe Gewißheit in der Philoſo-
phie ſucht, und die daſelbſt dogmatiſch genant werden
muͤßte.

Die philoſophiſche Erkentniß iſt die Vernunfter-
kentniß
aus Begriffen, die mathematiſche aus der Con-
ſtruction
der Begriffe. Einen Begriff aber conſtruiren
heißt: die ihm correſpondirende Anſchauung a priori dar-
ſtellen. Zur Conſtruction eines Begriffs wird alſo eine
nicht empiriſche Anſchauung erfordert, die folglich, als
Anſchauung, ein einzelnes Obiect iſt, aber nichts deſto-
weniger als die Conſtruction eines Begriffs (einer allge-
meinen Vorſtellung), Allgemeinguͤltigkeit vor alle moͤgliche
Anſchauungen, die unter denſelben Begriff gehoͤren, in der
Vorſtellung ausdruͤcken muß. So conſtruire ich einen
Triangel, indem ich den, dieſem Begriffe entſprechenden
Gegenſtand, entweder durch bloſſe Einbildung, in der rei-
nen, oder nach derſelben auch auf dem Papier, in der
empiriſchen Anſchauung, beide male aber voͤllig a priori,
ohne das Muſter dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt
zu haben, darſtelle. Die einzelne hingezeichnete Figur iſt

empi-
Y y 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0743" n="713"/><fw place="top" type="header">Die Di&#x017F;ciplin der reinen Vernunft im dogm. &#xA75B;c.</fw><lb/>
Gebrauche &#x017F;ich eben &#x017F;o glu&#x0364;cklich und gru&#x0364;ndlich erweitern<lb/>
zu ko&#x0364;nnen, als es ihr im mathemati&#x017F;chen gelungen i&#x017F;t,<lb/>
wenn &#x017F;ie vornemlich die&#x017F;elbe Methode dort anwendet, die<lb/>
hier von &#x017F;o augen&#x017F;cheinlichem Nutzen gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Es liegt<lb/>
uns al&#x017F;o viel daran, zu wi&#x017F;&#x017F;en: ob die Methode, zur apo-<lb/>
dicti&#x017F;chen Gewißheit zu gelangen, die man in der lezteren<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft <hi rendition="#fr">mathemati&#x017F;ch</hi> nent, mit derienigen einerley<lb/>
&#x017F;ey, womit man eben die&#x017F;elbe Gewißheit in der Philo&#x017F;o-<lb/>
phie &#x017F;ucht, und die da&#x017F;elb&#x017F;t dogmati&#x017F;ch genant werden<lb/>
mu&#x0364;ßte.</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#fr">philo&#x017F;ophi&#x017F;che</hi> Erkentniß i&#x017F;t die <hi rendition="#fr">Vernunfter-<lb/>
kentniß</hi> aus <hi rendition="#fr">Begriffen</hi>, die mathemati&#x017F;che aus der <hi rendition="#fr">Con-<lb/>
&#x017F;truction</hi> der Begriffe. Einen Begriff aber <hi rendition="#fr">con&#x017F;truiren</hi><lb/>
heißt: die ihm corre&#x017F;pondirende An&#x017F;chauung <hi rendition="#aq">a priori</hi> dar-<lb/>
&#x017F;tellen. Zur Con&#x017F;truction eines Begriffs wird al&#x017F;o eine<lb/>
nicht empiri&#x017F;che An&#x017F;chauung erfordert, die folglich, als<lb/>
An&#x017F;chauung, ein einzelnes Obiect i&#x017F;t, aber nichts de&#x017F;to-<lb/>
weniger als die Con&#x017F;truction eines Begriffs (einer allge-<lb/>
meinen Vor&#x017F;tellung), Allgemeingu&#x0364;ltigkeit vor alle mo&#x0364;gliche<lb/>
An&#x017F;chauungen, die unter den&#x017F;elben Begriff geho&#x0364;ren, in der<lb/>
Vor&#x017F;tellung ausdru&#x0364;cken muß. So con&#x017F;truire ich einen<lb/>
Triangel, indem ich den, die&#x017F;em Begriffe ent&#x017F;prechenden<lb/>
Gegen&#x017F;tand, entweder durch blo&#x017F;&#x017F;e Einbildung, in der rei-<lb/>
nen, oder nach der&#x017F;elben auch auf dem Papier, in der<lb/>
empiri&#x017F;chen An&#x017F;chauung, beide male aber vo&#x0364;llig <hi rendition="#aq">a priori,</hi><lb/>
ohne das Mu&#x017F;ter dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt<lb/>
zu haben, dar&#x017F;telle. Die einzelne hingezeichnete Figur i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y y 5</fw><fw place="bottom" type="catch">empi-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[713/0743] Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc. Gebrauche ſich eben ſo gluͤcklich und gruͤndlich erweitern zu koͤnnen, als es ihr im mathematiſchen gelungen iſt, wenn ſie vornemlich dieſelbe Methode dort anwendet, die hier von ſo augenſcheinlichem Nutzen geweſen iſt. Es liegt uns alſo viel daran, zu wiſſen: ob die Methode, zur apo- dictiſchen Gewißheit zu gelangen, die man in der lezteren Wiſſenſchaft mathematiſch nent, mit derienigen einerley ſey, womit man eben dieſelbe Gewißheit in der Philoſo- phie ſucht, und die daſelbſt dogmatiſch genant werden muͤßte. Die philoſophiſche Erkentniß iſt die Vernunfter- kentniß aus Begriffen, die mathematiſche aus der Con- ſtruction der Begriffe. Einen Begriff aber conſtruiren heißt: die ihm correſpondirende Anſchauung a priori dar- ſtellen. Zur Conſtruction eines Begriffs wird alſo eine nicht empiriſche Anſchauung erfordert, die folglich, als Anſchauung, ein einzelnes Obiect iſt, aber nichts deſto- weniger als die Conſtruction eines Begriffs (einer allge- meinen Vorſtellung), Allgemeinguͤltigkeit vor alle moͤgliche Anſchauungen, die unter denſelben Begriff gehoͤren, in der Vorſtellung ausdruͤcken muß. So conſtruire ich einen Triangel, indem ich den, dieſem Begriffe entſprechenden Gegenſtand, entweder durch bloſſe Einbildung, in der rei- nen, oder nach derſelben auch auf dem Papier, in der empiriſchen Anſchauung, beide male aber voͤllig a priori, ohne das Muſter dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darſtelle. Die einzelne hingezeichnete Figur iſt empi- Y y 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/743
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/743>, abgerufen am 24.11.2024.