Gehen wir aber von dieser Restriction der Idee auf den blos regulativen Gebrauch ab, so wird die Vernunft auf so mancherley Weise irre geführt, indem sie alsdenn den Boden der Erfahrung, der doch die Merkzeichen ih- res Ganges enthalten muß, verläßt, und sich über densel- ben zu dem Unbegreiflichen und unerforschlichen hinwagt, über dessen Höhe sie nothwendig schwindlicht wird, weil sie sich aus dem Standpuncte desselben von allem mit der Erfahrung stimmigen Gebrauch gänzlich abgeschnitten sieht.
Der erste Fehler, der daraus entspringt, daß man die Idee eines höchsten Wesens nicht blos regulativ, son- dern (welches der Natur einer Idee zuwider ist) constitu- tiv braucht, ist die faule Vernunft (ignaua ratio*). Man kan ieden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sey, vor
schlecht-
*) So nanten die alten Dialectiker einen Trugschluß, der so lautete: Wenn es dein Schicksal mit sich bringt, du solst von dieser Krankheit genesen, so wird es geschehen, du magst einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero sagt: daß diese Art zu schliessen ihren Nahmen daher habe, daß, wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft im Leben übrig bleibe. Dieses ist die Ursache, warum ich das sophistische Argument der reinen Vernunft mit demselben Nahmen belege.
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
Gehen wir aber von dieſer Reſtriction der Idee auf den blos regulativen Gebrauch ab, ſo wird die Vernunft auf ſo mancherley Weiſe irre gefuͤhrt, indem ſie alsdenn den Boden der Erfahrung, der doch die Merkzeichen ih- res Ganges enthalten muß, verlaͤßt, und ſich uͤber denſel- ben zu dem Unbegreiflichen und unerforſchlichen hinwagt, uͤber deſſen Hoͤhe ſie nothwendig ſchwindlicht wird, weil ſie ſich aus dem Standpuncte deſſelben von allem mit der Erfahrung ſtimmigen Gebrauch gaͤnzlich abgeſchnitten ſieht.
Der erſte Fehler, der daraus entſpringt, daß man die Idee eines hoͤchſten Weſens nicht blos regulativ, ſon- dern (welches der Natur einer Idee zuwider iſt) conſtitu- tiv braucht, iſt die faule Vernunft (ignaua ratio*). Man kan ieden Grundſatz ſo nennen, welcher macht, daß man ſeine Naturunterſuchung, wo es auch ſey, vor
ſchlecht-
*) So nanten die alten Dialectiker einen Trugſchluß, der ſo lautete: Wenn es dein Schickſal mit ſich bringt, du ſolſt von dieſer Krankheit geneſen, ſo wird es geſchehen, du magſt einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero ſagt: daß dieſe Art zu ſchlieſſen ihren Nahmen daher habe, daß, wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft im Leben uͤbrig bleibe. Dieſes iſt die Urſache, warum ich das ſophiſtiſche Argument der reinen Vernunft mit demſelben Nahmen belege.
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
Gehen wir aber von dieſer Reſtriction der Idee auf
den blos regulativen Gebrauch ab, ſo wird die Vernunft
auf ſo mancherley Weiſe irre gefuͤhrt, indem ſie alsdenn
den Boden der Erfahrung, der doch die Merkzeichen ih-
res Ganges enthalten muß, verlaͤßt, und ſich uͤber denſel-
ben zu dem Unbegreiflichen und unerforſchlichen hinwagt,
uͤber deſſen Hoͤhe ſie nothwendig ſchwindlicht wird, weil ſie
ſich aus dem Standpuncte deſſelben von allem mit der
Erfahrung ſtimmigen Gebrauch gaͤnzlich abgeſchnitten
ſieht.
Der erſte Fehler, der daraus entſpringt, daß man
die Idee eines hoͤchſten Weſens nicht blos regulativ, ſon-
dern (welches der Natur einer Idee zuwider iſt) conſtitu-
tiv braucht, iſt die faule Vernunft (ignaua ratio *).
Man kan ieden Grundſatz ſo nennen, welcher macht, daß
man ſeine Naturunterſuchung, wo es auch ſey, vor
ſchlecht-
*) So nanten die alten Dialectiker einen Trugſchluß, der
ſo lautete: Wenn es dein Schickſal mit ſich bringt, du
ſolſt von dieſer Krankheit geneſen, ſo wird es geſchehen,
du magſt einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero ſagt:
daß dieſe Art zu ſchlieſſen ihren Nahmen daher habe, daß,
wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft
im Leben uͤbrig bleibe. Dieſes iſt die Urſache, warum
ich das ſophiſtiſche Argument der reinen Vernunft mit
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 689. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/719>, abgerufen am 23.11.2024.
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