Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Absch. Critik aller speculativen Theologie.
reine Vernunft nichts übrig, als Natur überhaupt, und
die Vollständigkeit der Bedingungen in derselben nach ir-
gend einem Princip. Die absolute Totalität der Reihen
dieser Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, ist
eine Idee, die zwar im empirischen Gebrauche der Ver-
nunft niemals völlig zu Stande kommen kan, aber doch
zur Regel dient, wie wir in Ansehung derselben verfah-
ren sollen, nemlich in der Erklärung gegebener Erscheinun-
gen (im Zurückgehen oder Aufsteigen) so, als ob die Rei-
he an sich unendlich wäre, d. i. in indefinitum, aber wo
die Vernunft selbst als bestimmende Ursache betrachtet
wird (in der Freiheit), also bey practischen Principien,
als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, sondern des rei-
nen Verstandes vor uns hätten, wo die Bedingungen nicht
mehr in der Reihe der Erscheinungen, sondern ausser der-
selben gesezt werden können und die Reihe der Zustände
angesehen werden kan, als ob sie schlechthin (durch eine
intelligibele Ursache) angefangen würde, welches alles
beweiset: daß die cosmologische Ideen nichts als regula-
tive Principien und weit davon entfernt sind, gleichsam
constitutiv, eine wirkliche Totalität solcher Reihen zu setzen.
Das übrige kan man an seinem Orte unter der Antinomie
der reinen Vernunft suchen.

Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine
blos relative Supposition eines Wesens enthält, als der
einigen und allgnugsamen Ursache aller cosmologischen
Reihen, ist der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenstand

die-

VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
reine Vernunft nichts uͤbrig, als Natur uͤberhaupt, und
die Vollſtaͤndigkeit der Bedingungen in derſelben nach ir-
gend einem Princip. Die abſolute Totalitaͤt der Reihen
dieſer Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, iſt
eine Idee, die zwar im empiriſchen Gebrauche der Ver-
nunft niemals voͤllig zu Stande kommen kan, aber doch
zur Regel dient, wie wir in Anſehung derſelben verfah-
ren ſollen, nemlich in der Erklaͤrung gegebener Erſcheinun-
gen (im Zuruͤckgehen oder Aufſteigen) ſo, als ob die Rei-
he an ſich unendlich waͤre, d. i. in indefinitum, aber wo
die Vernunft ſelbſt als beſtimmende Urſache betrachtet
wird (in der Freiheit), alſo bey practiſchen Principien,
als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, ſondern des rei-
nen Verſtandes vor uns haͤtten, wo die Bedingungen nicht
mehr in der Reihe der Erſcheinungen, ſondern auſſer der-
ſelben geſezt werden koͤnnen und die Reihe der Zuſtaͤnde
angeſehen werden kan, als ob ſie ſchlechthin (durch eine
intelligibele Urſache) angefangen wuͤrde, welches alles
beweiſet: daß die cosmologiſche Ideen nichts als regula-
tive Principien und weit davon entfernt ſind, gleichſam
conſtitutiv, eine wirkliche Totalitaͤt ſolcher Reihen zu ſetzen.
Das uͤbrige kan man an ſeinem Orte unter der Antinomie
der reinen Vernunft ſuchen.

Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine
blos relative Suppoſition eines Weſens enthaͤlt, als der
einigen und allgnugſamen Urſache aller cosmologiſchen
Reihen, iſt der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenſtand

die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0715" n="685"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ab&#x017F;ch. Critik aller &#x017F;peculativen Theologie.</fw><lb/>
reine Vernunft nichts u&#x0364;brig, als Natur u&#x0364;berhaupt, und<lb/>
die Voll&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit der Bedingungen in der&#x017F;elben nach ir-<lb/>
gend einem Princip. Die ab&#x017F;olute Totalita&#x0364;t der Reihen<lb/>
die&#x017F;er Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, i&#x017F;t<lb/>
eine Idee, die zwar im empiri&#x017F;chen Gebrauche der Ver-<lb/>
nunft niemals vo&#x0364;llig zu Stande kommen kan, aber doch<lb/>
zur Regel dient, wie wir in An&#x017F;ehung der&#x017F;elben verfah-<lb/>
ren &#x017F;ollen, nemlich in der Erkla&#x0364;rung gegebener Er&#x017F;cheinun-<lb/>
gen (im Zuru&#x0364;ckgehen oder Auf&#x017F;teigen) &#x017F;o, als ob die Rei-<lb/>
he an &#x017F;ich unendlich wa&#x0364;re, d. i. <hi rendition="#aq">in indefinitum,</hi> aber wo<lb/>
die Vernunft &#x017F;elb&#x017F;t als be&#x017F;timmende Ur&#x017F;ache betrachtet<lb/>
wird (in der Freiheit), al&#x017F;o bey practi&#x017F;chen Principien,<lb/>
als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, &#x017F;ondern des rei-<lb/>
nen Ver&#x017F;tandes vor uns ha&#x0364;tten, wo die Bedingungen nicht<lb/>
mehr in der Reihe der Er&#x017F;cheinungen, &#x017F;ondern au&#x017F;&#x017F;er der-<lb/>
&#x017F;elben ge&#x017F;ezt werden ko&#x0364;nnen und die Reihe der Zu&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
ange&#x017F;ehen werden kan, als ob &#x017F;ie &#x017F;chlechthin (durch eine<lb/>
intelligibele Ur&#x017F;ache) angefangen wu&#x0364;rde, welches alles<lb/>
bewei&#x017F;et: daß die cosmologi&#x017F;che Ideen nichts als regula-<lb/>
tive Principien und weit davon entfernt &#x017F;ind, gleich&#x017F;am<lb/>
con&#x017F;titutiv, eine wirkliche Totalita&#x0364;t &#x017F;olcher Reihen zu &#x017F;etzen.<lb/>
Das u&#x0364;brige kan man an &#x017F;einem Orte unter der Antinomie<lb/>
der reinen Vernunft &#x017F;uchen.</p><lb/>
                        <p>Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine<lb/>
blos relative Suppo&#x017F;ition eines We&#x017F;ens entha&#x0364;lt, als der<lb/>
einigen und allgnug&#x017F;amen Ur&#x017F;ache aller cosmologi&#x017F;chen<lb/>
Reihen, i&#x017F;t der Vernunftbegriff von <hi rendition="#fr">Gott</hi>. Den Gegen&#x017F;tand<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die-</fw><lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[685/0715] VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie. reine Vernunft nichts uͤbrig, als Natur uͤberhaupt, und die Vollſtaͤndigkeit der Bedingungen in derſelben nach ir- gend einem Princip. Die abſolute Totalitaͤt der Reihen dieſer Bedingungen, in der Ableitung ihrer Glieder, iſt eine Idee, die zwar im empiriſchen Gebrauche der Ver- nunft niemals voͤllig zu Stande kommen kan, aber doch zur Regel dient, wie wir in Anſehung derſelben verfah- ren ſollen, nemlich in der Erklaͤrung gegebener Erſcheinun- gen (im Zuruͤckgehen oder Aufſteigen) ſo, als ob die Rei- he an ſich unendlich waͤre, d. i. in indefinitum, aber wo die Vernunft ſelbſt als beſtimmende Urſache betrachtet wird (in der Freiheit), alſo bey practiſchen Principien, als ob wir nicht ein Obiect der Sinne, ſondern des rei- nen Verſtandes vor uns haͤtten, wo die Bedingungen nicht mehr in der Reihe der Erſcheinungen, ſondern auſſer der- ſelben geſezt werden koͤnnen und die Reihe der Zuſtaͤnde angeſehen werden kan, als ob ſie ſchlechthin (durch eine intelligibele Urſache) angefangen wuͤrde, welches alles beweiſet: daß die cosmologiſche Ideen nichts als regula- tive Principien und weit davon entfernt ſind, gleichſam conſtitutiv, eine wirkliche Totalitaͤt ſolcher Reihen zu ſetzen. Das uͤbrige kan man an ſeinem Orte unter der Antinomie der reinen Vernunft ſuchen. Die dritte Idee der reinen Vernunft, welche eine blos relative Suppoſition eines Weſens enthaͤlt, als der einigen und allgnugſamen Urſache aller cosmologiſchen Reihen, iſt der Vernunftbegriff von Gott. Den Gegenſtand die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/715
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/715>, abgerufen am 23.11.2024.