anzugebende besondere Fälle daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen. Diesen will ich den hypothetischen Gebrauch der Vernunft nennen.
Der hypothetische Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen, als problematischer Begriffe, ist ei- gentlich nicht constitutiv, nemlich nicht so beschaffen, daß dadurch, wenn man nach aller Strenge urtheilen will, die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese ange- nommen worden, folge; denn, wie will man alle mögliche Folgen wissen, die, indem sie aus demselben angenommenen Grundsatze folgen, seine Allgemeinheit beweisen, sondern er ist nur regulativ, um dadurch, so weit als es möglich ist, Einheit in die besondere Erkentnisse zu bringen und die Regel dadurch der Allgemeinheit zu näheren.
Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkentnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt ist die systematische Einheit (als blosse Idee) lediglich nur proiectirte Einheit, die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß, welche aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen.
Man
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
anzugebende beſondere Faͤlle daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieſer aber nachher auf alle Faͤlle, die auch an ſich nicht gegeben ſind, geſchloſſen. Dieſen will ich den hypothetiſchen Gebrauch der Vernunft nennen.
Der hypothetiſche Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen, als problematiſcher Begriffe, iſt ei- gentlich nicht conſtitutiv, nemlich nicht ſo beſchaffen, daß dadurch, wenn man nach aller Strenge urtheilen will, die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypotheſe ange- nommen worden, folge; denn, wie will man alle moͤgliche Folgen wiſſen, die, indem ſie aus demſelben angenommenen Grundſatze folgen, ſeine Allgemeinheit beweiſen, ſondern er iſt nur regulativ, um dadurch, ſo weit als es moͤglich iſt, Einheit in die beſondere Erkentniſſe zu bringen und die Regel dadurch der Allgemeinheit zu naͤheren.
Der hypothetiſche Vernunftgebrauch geht alſo auf die ſyſtematiſche Einheit der Verſtandeserkentniſſe, dieſe aber iſt der Probierſtein der Wahrheit der Regeln. Umgekehrt iſt die ſyſtematiſche Einheit (als bloſſe Idee) lediglich nur proiectirte Einheit, die man an ſich nicht als gegeben, ſondern nur als Problem anſehen muß, welche aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und beſonderen Verſtandesgebrauche ein Principium zu finden und dieſen dadurch auch uͤber die Faͤlle, die nicht gegeben ſind, zu leiten und zuſammenhaͤngend zu machen.
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
anzugebende beſondere Faͤlle daraus abfolgen, wird auf
die Allgemeinheit der Regel, aus dieſer aber nachher auf
alle Faͤlle, die auch an ſich nicht gegeben ſind, geſchloſſen.
Dieſen will ich den hypothetiſchen Gebrauch der Vernunft
nennen.
Der hypothetiſche Gebrauch der Vernunft aus zum
Grunde gelegten Ideen, als problematiſcher Begriffe, iſt ei-
gentlich nicht conſtitutiv, nemlich nicht ſo beſchaffen, daß
dadurch, wenn man nach aller Strenge urtheilen will, die
Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypotheſe ange-
nommen worden, folge; denn, wie will man alle moͤgliche
Folgen wiſſen, die, indem ſie aus demſelben angenommenen
Grundſatze folgen, ſeine Allgemeinheit beweiſen, ſondern
er iſt nur regulativ, um dadurch, ſo weit als es moͤglich iſt,
Einheit in die beſondere Erkentniſſe zu bringen und die
Regel dadurch der Allgemeinheit zu naͤheren.
Der hypothetiſche Vernunftgebrauch geht alſo auf
die ſyſtematiſche Einheit der Verſtandeserkentniſſe, dieſe
aber iſt der Probierſtein der Wahrheit der Regeln.
Umgekehrt iſt die ſyſtematiſche Einheit (als bloſſe Idee)
lediglich nur proiectirte Einheit, die man an ſich nicht als
gegeben, ſondern nur als Problem anſehen muß, welche
aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und beſonderen
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/677>, abgerufen am 22.11.2024.
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