VIII. Absch. Regulatives Princip d. r. Vernunft etc.
(Philosophen) wollen an dessen statt nur den Ausdruck von einem progressus in indefinitum geltenlassen. Ohne mich bey der Prüfung der Bedenklichkeit, die diesen eine solche Unterscheidung angerathen hat, und dem guten oder fruchtlosen Gebrauch derselben aufzuhalten, will ich diese Begriffe in Beziehung auf meine Absicht genau zu be- stimmen suchen.
Von einer geraden Linie kan man mit Recht sagen, sie könne ins Unendliche verlängert werden, und hier würde die Unterscheidung des Unendlichen und des unbestimbar weiten Fortgangs (progressus in indefinitum) eine leere Subtilität seyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin- zu sezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum; weil das erstere nicht mehr bedeutet als: verlängert sie, so weit ihr wollet, das zweite aber: ihr sollt niemals aufhören sie zu verlängern (welches hiebey eben nicht die Absicht ist), so ist doch, wenn nur vom können die Rede ist, der erstere Ausdruck ganz richtig; denn ihr könt sie ins Unendliche immer grösser machen. Und so verhält es sich auch in allen Fällen, wo man nur vom Progressus, d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten, spricht; dieser mögliche Fortgang geht in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar könt ihr in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort- gehen und euch auch ganz wol denken, daß sie wirklich
in
VIII. Abſch. Regulatives Princip d. r. Vernunft ꝛc.
(Philoſophen) wollen an deſſen ſtatt nur den Ausdruck von einem progreſſus in indefinitum geltenlaſſen. Ohne mich bey der Pruͤfung der Bedenklichkeit, die dieſen eine ſolche Unterſcheidung angerathen hat, und dem guten oder fruchtloſen Gebrauch derſelben aufzuhalten, will ich dieſe Begriffe in Beziehung auf meine Abſicht genau zu be- ſtimmen ſuchen.
Von einer geraden Linie kan man mit Recht ſagen, ſie koͤnne ins Unendliche verlaͤngert werden, und hier wuͤrde die Unterſcheidung des Unendlichen und des unbeſtimbar weiten Fortgangs (progreſſus in indefinitum) eine leere Subtilitaͤt ſeyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin- zu ſezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum; weil das erſtere nicht mehr bedeutet als: verlaͤngert ſie, ſo weit ihr wollet, das zweite aber: ihr ſollt niemals aufhoͤren ſie zu verlaͤngern (welches hiebey eben nicht die Abſicht iſt), ſo iſt doch, wenn nur vom koͤnnen die Rede iſt, der erſtere Ausdruck ganz richtig; denn ihr koͤnt ſie ins Unendliche immer groͤſſer machen. Und ſo verhaͤlt es ſich auch in allen Faͤllen, wo man nur vom Progreſſus, d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten, ſpricht; dieſer moͤgliche Fortgang geht in der Reihe der Erſcheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar koͤnt ihr in abſteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort- gehen und euch auch ganz wol denken, daß ſie wirklich
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VIII. Abſch. Regulatives Princip d. r. Vernunft ꝛc.
(Philoſophen) wollen an deſſen ſtatt nur den Ausdruck von
einem progreſſus in indefinitum geltenlaſſen. Ohne mich
bey der Pruͤfung der Bedenklichkeit, die dieſen eine ſolche
Unterſcheidung angerathen hat, und dem guten oder
fruchtloſen Gebrauch derſelben aufzuhalten, will ich dieſe
Begriffe in Beziehung auf meine Abſicht genau zu be-
ſtimmen ſuchen.
Von einer geraden Linie kan man mit Recht ſagen, ſie
koͤnne ins Unendliche verlaͤngert werden, und hier wuͤrde
die Unterſcheidung des Unendlichen und des unbeſtimbar
weiten Fortgangs (progreſſus in indefinitum) eine leere
Subtilitaͤt ſeyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet
eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hin-
zu ſezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum;
weil das erſtere nicht mehr bedeutet als: verlaͤngert ſie,
ſo weit ihr wollet, das zweite aber: ihr ſollt niemals
aufhoͤren ſie zu verlaͤngern (welches hiebey eben nicht die
Abſicht iſt), ſo iſt doch, wenn nur vom koͤnnen die Rede
iſt, der erſtere Ausdruck ganz richtig; denn ihr koͤnt ſie
ins Unendliche immer groͤſſer machen. Und ſo verhaͤlt es
ſich auch in allen Faͤllen, wo man nur vom Progreſſus,
d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten,
ſpricht; dieſer moͤgliche Fortgang geht in der Reihe der
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koͤnt ihr in abſteigender Linie der Zeugung ohne Ende fort-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/541>, abgerufen am 22.11.2024.
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