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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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III. Absch. Von dem Interesse der Vernunft etc.
Aber eben dieses ist sein Bewegungsgrund. Denn er be-
findet sich alsdenn in einem Zustande, in welchem sich auch
der Gelehrteste über ihn nichts herausnehmen kan. Wenn
er wenig oder nichts davon versteht, so kan sich doch auch
niemand rühmen, viel Mehr davon zu verstehen und, ob
er gleich hierüber nicht so schulgerecht, als andere sprechen
kan, so kan er doch darüber unendlich mehr vernünfteln,
weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man
eben darum am beredtsten ist, weil man davon nichts
weiß; anstatt, daß er über der Nachforschung der Natur
ganz verstummen und seine Unwissenheit gestehen müßte.
Gemächlichkeit und Eitelkeit also sind schon eine starke Em-
pfehlung dieser Grundsätze. Ueberdem, ob es gleich einem
Philosophen sehr schwer wird, etwas als Grundsatz anzu-
nehmen, ohne deshalb sich selbst Rechenschaft geben zu kön-
nen, noch weniger Begriffe, deren obiective Realität nicht
eingesehen werden kan, einzuführen: so ist doch dem ge-
meinen Verstande nichts gewöhnlicher. Er will etwas
haben, womit er zuversichtlich anfangen könne. Die
Schwierigkeit, eine solche Voraussetzung selbst zu begrei-
fen, beunruhigt ihn nicht, weil sie ihm, (der nicht weiß,
was Begreiffen heißt,) niemals in den Sinn komt, und er
hält das vor bekant, was ihm durch öfteren Gebrauch
geläufig ist. Zulezt aber verschwindet alles speculative In-
teresse bey ihm vor dem practischen, und er bildet sich ein,
das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu
glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben.

So
G g 5

III. Abſch. Von dem Intereſſe der Vernunft ꝛc.
Aber eben dieſes iſt ſein Bewegungsgrund. Denn er be-
findet ſich alsdenn in einem Zuſtande, in welchem ſich auch
der Gelehrteſte uͤber ihn nichts herausnehmen kan. Wenn
er wenig oder nichts davon verſteht, ſo kan ſich doch auch
niemand ruͤhmen, viel Mehr davon zu verſtehen und, ob
er gleich hieruͤber nicht ſo ſchulgerecht, als andere ſprechen
kan, ſo kan er doch daruͤber unendlich mehr vernuͤnfteln,
weil er unter lauter Ideen herumwandelt, uͤber die man
eben darum am beredtſten iſt, weil man davon nichts
weiß; anſtatt, daß er uͤber der Nachforſchung der Natur
ganz verſtummen und ſeine Unwiſſenheit geſtehen muͤßte.
Gemaͤchlichkeit und Eitelkeit alſo ſind ſchon eine ſtarke Em-
pfehlung dieſer Grundſaͤtze. Ueberdem, ob es gleich einem
Philoſophen ſehr ſchwer wird, etwas als Grundſatz anzu-
nehmen, ohne deshalb ſich ſelbſt Rechenſchaft geben zu koͤn-
nen, noch weniger Begriffe, deren obiective Realitaͤt nicht
eingeſehen werden kan, einzufuͤhren: ſo iſt doch dem ge-
meinen Verſtande nichts gewoͤhnlicher. Er will etwas
haben, womit er zuverſichtlich anfangen koͤnne. Die
Schwierigkeit, eine ſolche Vorausſetzung ſelbſt zu begrei-
fen, beunruhigt ihn nicht, weil ſie ihm, (der nicht weiß,
was Begreiffen heißt,) niemals in den Sinn komt, und er
haͤlt das vor bekant, was ihm durch oͤfteren Gebrauch
gelaͤufig iſt. Zulezt aber verſchwindet alles ſpeculative In-
tereſſe bey ihm vor dem practiſchen, und er bildet ſich ein,
das einzuſehen und zu wiſſen, was anzunehmen oder zu
glauben, ihn ſeine Beſorgniſſe oder Hoffnungen antreiben.

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[473/0503] III. Abſch. Von dem Intereſſe der Vernunft ꝛc. Aber eben dieſes iſt ſein Bewegungsgrund. Denn er be- findet ſich alsdenn in einem Zuſtande, in welchem ſich auch der Gelehrteſte uͤber ihn nichts herausnehmen kan. Wenn er wenig oder nichts davon verſteht, ſo kan ſich doch auch niemand ruͤhmen, viel Mehr davon zu verſtehen und, ob er gleich hieruͤber nicht ſo ſchulgerecht, als andere ſprechen kan, ſo kan er doch daruͤber unendlich mehr vernuͤnfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, uͤber die man eben darum am beredtſten iſt, weil man davon nichts weiß; anſtatt, daß er uͤber der Nachforſchung der Natur ganz verſtummen und ſeine Unwiſſenheit geſtehen muͤßte. Gemaͤchlichkeit und Eitelkeit alſo ſind ſchon eine ſtarke Em- pfehlung dieſer Grundſaͤtze. Ueberdem, ob es gleich einem Philoſophen ſehr ſchwer wird, etwas als Grundſatz anzu- nehmen, ohne deshalb ſich ſelbſt Rechenſchaft geben zu koͤn- nen, noch weniger Begriffe, deren obiective Realitaͤt nicht eingeſehen werden kan, einzufuͤhren: ſo iſt doch dem ge- meinen Verſtande nichts gewoͤhnlicher. Er will etwas haben, womit er zuverſichtlich anfangen koͤnne. Die Schwierigkeit, eine ſolche Vorausſetzung ſelbſt zu begrei- fen, beunruhigt ihn nicht, weil ſie ihm, (der nicht weiß, was Begreiffen heißt,) niemals in den Sinn komt, und er haͤlt das vor bekant, was ihm durch oͤfteren Gebrauch gelaͤufig iſt. Zulezt aber verſchwindet alles ſpeculative In- tereſſe bey ihm vor dem practiſchen, und er bildet ſich ein, das einzuſehen und zu wiſſen, was anzunehmen oder zu glauben, ihn ſeine Beſorgniſſe oder Hoffnungen antreiben. So G g 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/503>, abgerufen am 20.05.2024.