Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
dienen könne. Es heißt aber iede Erkentniß rein, die
mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber
wird eine Erkentniß schlechthin rein genannt, in die sich
überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt,
welche mithin völlig a priori möglich ist. Nun ist Ver-
nunft das Vermögen, welches die Principien der Erkent-
niß a priori an die Hand giebt. Daher ist reine Vernunft
dieienige, welche die Principien etwas schlechthin a priori
zu erkennen, enthält. Ein Organon der reinen Vernunft
würde ein Inbegriff derienigen Principien seyn, nach de-
nen alle reine Erkentnisse a priori können erworben und
wirklich zu Stande gebracht werden. Die ausführliche
Anwendung eines solchen Organon würde ein System der
reinen Vernunft verschaffen. Da dieses aber sehr viel
verlangt ist, und es noch dahin steht, ob auch überhaupt
eine solche Erweiterung unserer Erkentniß, und in welchen
Fällen sie möglich sey; so können wir eine Wissenschaft der
blossen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen
und Grenzen, als die Propädevtick zum System der rei-
nen Vernunft ansehen. Eine solche würde nicht eine
Doctrin, sondern nur Critik der reinen Vernunft heissen
müssen, und ihr Nutze würde wirklich nur negativ seyn,
nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer
Vernunft dienen, und sie von Irrthümern frey halten,
welches schon sehr viel gewonnen ist. Ich nenne alle Er-
kentniß transscendental, die sich nicht so wohl mit Gegen-
ständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegen-

stän-

Einleitung.
dienen koͤnne. Es heißt aber iede Erkentniß rein, die
mit nichts Fremdartigen vermiſcht iſt. Beſonders aber
wird eine Erkentniß ſchlechthin rein genannt, in die ſich
uͤberhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmiſcht,
welche mithin voͤllig a priori moͤglich iſt. Nun iſt Ver-
nunft das Vermoͤgen, welches die Principien der Erkent-
niß a priori an die Hand giebt. Daher iſt reine Vernunft
dieienige, welche die Principien etwas ſchlechthin a priori
zu erkennen, enthaͤlt. Ein Organon der reinen Vernunft
wuͤrde ein Inbegriff derienigen Principien ſeyn, nach de-
nen alle reine Erkentniſſe a priori koͤnnen erworben und
wirklich zu Stande gebracht werden. Die ausfuͤhrliche
Anwendung eines ſolchen Organon wuͤrde ein Syſtem der
reinen Vernunft verſchaffen. Da dieſes aber ſehr viel
verlangt iſt, und es noch dahin ſteht, ob auch uͤberhaupt
eine ſolche Erweiterung unſerer Erkentniß, und in welchen
Faͤllen ſie moͤglich ſey; ſo koͤnnen wir eine Wiſſenſchaft der
bloſſen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen
und Grenzen, als die Propaͤdevtick zum Syſtem der rei-
nen Vernunft anſehen. Eine ſolche wuͤrde nicht eine
Doctrin, ſondern nur Critik der reinen Vernunft heiſſen
muͤſſen, und ihr Nutze wuͤrde wirklich nur negativ ſeyn,
nicht zur Erweiterung, ſondern nur zur Laͤuterung unſerer
Vernunft dienen, und ſie von Irrthuͤmern frey halten,
welches ſchon ſehr viel gewonnen iſt. Ich nenne alle Er-
kentniß transſcendental, die ſich nicht ſo wohl mit Gegen-
ſtaͤnden, ſondern mit unſern Begriffen a priori von Gegen-

ſtaͤn-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0041" n="11"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
dienen ko&#x0364;nne. Es heißt aber iede Erkentniß rein, die<lb/>
mit nichts Fremdartigen vermi&#x017F;cht i&#x017F;t. Be&#x017F;onders aber<lb/>
wird eine Erkentniß &#x017F;chlechthin rein genannt, in die &#x017F;ich<lb/>
u&#x0364;berhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmi&#x017F;cht,<lb/>
welche mithin vo&#x0364;llig <hi rendition="#aq">a priori</hi> mo&#x0364;glich i&#x017F;t. Nun i&#x017F;t Ver-<lb/>
nunft das Vermo&#x0364;gen, welches die Principien der Erkent-<lb/>
niß <hi rendition="#aq">a priori</hi> an die Hand giebt. Daher i&#x017F;t reine Vernunft<lb/>
dieienige, welche die Principien etwas &#x017F;chlechthin <hi rendition="#aq">a priori</hi><lb/>
zu erkennen, entha&#x0364;lt. Ein Organon der reinen Vernunft<lb/>
wu&#x0364;rde ein Inbegriff derienigen Principien &#x017F;eyn, nach de-<lb/>
nen alle reine Erkentni&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#aq">a priori</hi> ko&#x0364;nnen erworben und<lb/>
wirklich zu Stande gebracht werden. Die ausfu&#x0364;hrliche<lb/>
Anwendung eines &#x017F;olchen Organon wu&#x0364;rde ein Sy&#x017F;tem der<lb/>
reinen Vernunft ver&#x017F;chaffen. Da die&#x017F;es aber &#x017F;ehr viel<lb/>
verlangt i&#x017F;t, und es noch dahin &#x017F;teht, ob auch u&#x0364;berhaupt<lb/>
eine &#x017F;olche Erweiterung un&#x017F;erer Erkentniß, und in welchen<lb/>
Fa&#x0364;llen &#x017F;ie mo&#x0364;glich &#x017F;ey; &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;en Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen<lb/>
und Grenzen, als die Propa&#x0364;devtick zum Sy&#x017F;tem der rei-<lb/>
nen Vernunft an&#x017F;ehen. Eine &#x017F;olche wu&#x0364;rde nicht eine<lb/>
Doctrin, &#x017F;ondern nur Critik der reinen Vernunft hei&#x017F;&#x017F;en<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und ihr Nutze wu&#x0364;rde wirklich nur negativ &#x017F;eyn,<lb/>
nicht zur Erweiterung, &#x017F;ondern nur zur La&#x0364;uterung un&#x017F;erer<lb/>
Vernunft dienen, und &#x017F;ie von Irrthu&#x0364;mern frey halten,<lb/>
welches &#x017F;chon &#x017F;ehr viel gewonnen i&#x017F;t. Ich nenne alle Er-<lb/>
kentniß trans&#x017F;cendental, die &#x017F;ich nicht &#x017F;o wohl mit Gegen-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden, &#x017F;ondern mit un&#x017F;ern Begriffen <hi rendition="#aq">a priori</hi> von Gegen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ta&#x0364;n-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0041] Einleitung. dienen koͤnne. Es heißt aber iede Erkentniß rein, die mit nichts Fremdartigen vermiſcht iſt. Beſonders aber wird eine Erkentniß ſchlechthin rein genannt, in die ſich uͤberhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmiſcht, welche mithin voͤllig a priori moͤglich iſt. Nun iſt Ver- nunft das Vermoͤgen, welches die Principien der Erkent- niß a priori an die Hand giebt. Daher iſt reine Vernunft dieienige, welche die Principien etwas ſchlechthin a priori zu erkennen, enthaͤlt. Ein Organon der reinen Vernunft wuͤrde ein Inbegriff derienigen Principien ſeyn, nach de- nen alle reine Erkentniſſe a priori koͤnnen erworben und wirklich zu Stande gebracht werden. Die ausfuͤhrliche Anwendung eines ſolchen Organon wuͤrde ein Syſtem der reinen Vernunft verſchaffen. Da dieſes aber ſehr viel verlangt iſt, und es noch dahin ſteht, ob auch uͤberhaupt eine ſolche Erweiterung unſerer Erkentniß, und in welchen Faͤllen ſie moͤglich ſey; ſo koͤnnen wir eine Wiſſenſchaft der bloſſen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als die Propaͤdevtick zum Syſtem der rei- nen Vernunft anſehen. Eine ſolche wuͤrde nicht eine Doctrin, ſondern nur Critik der reinen Vernunft heiſſen muͤſſen, und ihr Nutze wuͤrde wirklich nur negativ ſeyn, nicht zur Erweiterung, ſondern nur zur Laͤuterung unſerer Vernunft dienen, und ſie von Irrthuͤmern frey halten, welches ſchon ſehr viel gewonnen iſt. Ich nenne alle Er- kentniß transſcendental, die ſich nicht ſo wohl mit Gegen- ſtaͤnden, ſondern mit unſern Begriffen a priori von Gegen- ſtaͤn-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/41
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/41>, abgerufen am 19.04.2024.