genden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transscendentale Schein dagegen hört gleichwol nicht auf, ob man ihn schon aufgedekt und seine Nichtigkeit durch die transscendentale Critik deutlich eingesehen hat. (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben). Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subiectiv als ein menschliches Erkentnißvermögen betrachtet) Grundregeln und Maxi- men ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen obiectiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subiective Nothwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, vor eine obiective Nothwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir iene durch höhere Lichtstrahlen als die- se sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kan, daß ihm der Mond im Aufgange nicht grösser scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht be- trogen wird.
Die transscendentale Dialectik wird also sich damit begnügen, den Schein transscendenter Urtheile aufzudecken, und zugleich zu verhüten, daß er nicht betriege; daß er aber auch (wie der logische Schein) so gar verschwinde und ein Schein zu seyn aufhöre, das kan sie niemals be-
werk-
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Einleitung.
genden Fall geſchaͤrft wird, ſo verſchwindet er gaͤnzlich. Der transſcendentale Schein dagegen hoͤrt gleichwol nicht auf, ob man ihn ſchon aufgedekt und ſeine Nichtigkeit durch die transſcendentale Critik deutlich eingeſehen hat. (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben). Die Urſache hievon iſt dieſe: daß in unſerer Vernunft (ſubiectiv als ein menſchliches Erkentnißvermoͤgen betrachtet) Grundregeln und Maxi- men ihres Gebrauchs liegen, welche gaͤnzlich das Anſehen obiectiver Grundſaͤtze haben und wodurch es geſchieht, daß die ſubiective Nothwendigkeit einer gewiſſen Verknuͤpfung unſerer Begriffe, zu Gunſten des Verſtandes, vor eine obiective Nothwendigkeit, der Beſtimmung der Dinge an ſich ſelbſt, gehalten wird. Eine Illuſion, die gar nicht zu vermeiden iſt, ſo wenig als wir es vermeiden koͤnnen, daß uns das Meer in der Mitte nicht hoͤher ſcheine, wie an dem Ufer, weil wir iene durch hoͤhere Lichtſtrahlen als die- ſe ſehen, oder, noch mehr, ſo wenig ſelbſt der Aſtronom verhindern kan, daß ihm der Mond im Aufgange nicht groͤſſer ſcheine, ob er gleich durch dieſen Schein nicht be- trogen wird.
Die transſcendentale Dialectik wird alſo ſich damit begnuͤgen, den Schein transſcendenter Urtheile aufzudecken, und zugleich zu verhuͤten, daß er nicht betriege; daß er aber auch (wie der logiſche Schein) ſo gar verſchwinde und ein Schein zu ſeyn aufhoͤre, das kan ſie niemals be-
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Einleitung.
genden Fall geſchaͤrft wird, ſo verſchwindet er gaͤnzlich.
Der transſcendentale Schein dagegen hoͤrt gleichwol nicht
auf, ob man ihn ſchon aufgedekt und ſeine Nichtigkeit
durch die transſcendentale Critik deutlich eingeſehen hat.
(z. B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit
nach einen Anfang haben). Die Urſache hievon iſt dieſe:
daß in unſerer Vernunft (ſubiectiv als ein menſchliches
Erkentnißvermoͤgen betrachtet) Grundregeln und Maxi-
men ihres Gebrauchs liegen, welche gaͤnzlich das Anſehen
obiectiver Grundſaͤtze haben und wodurch es geſchieht, daß
die ſubiective Nothwendigkeit einer gewiſſen Verknuͤpfung
unſerer Begriffe, zu Gunſten des Verſtandes, vor eine
obiective Nothwendigkeit, der Beſtimmung der Dinge an
ſich ſelbſt, gehalten wird. Eine Illuſion, die gar nicht
zu vermeiden iſt, ſo wenig als wir es vermeiden koͤnnen, daß
uns das Meer in der Mitte nicht hoͤher ſcheine, wie an
dem Ufer, weil wir iene durch hoͤhere Lichtſtrahlen als die-
ſe ſehen, oder, noch mehr, ſo wenig ſelbſt der Aſtronom
verhindern kan, daß ihm der Mond im Aufgange nicht
groͤſſer ſcheine, ob er gleich durch dieſen Schein nicht be-
trogen wird.
Die transſcendentale Dialectik wird alſo ſich damit
begnuͤgen, den Schein transſcendenter Urtheile aufzudecken,
und zugleich zu verhuͤten, daß er nicht betriege; daß er
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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